1. Startseite
  2. Sport
  3. Lokalsport

Ein Stuhl in Trümmern, ein Verein im Aufwind

Erstellt: Aktualisiert:

Gießen . Eins ist gewiss: Auch wenn der FSV Fernwald in letzter Sekunde einen Punkt entrissen bekam, der FC Gießen hat seinerseits einen Monobloc weniger. Denn der nach der Entscheidung von Schiedsrichter Christoph Rübe zum 3:2-Erfolg verwandelte Handelfmeter in der sechsten Minute der Nachspielzeit kostete einen Stuhl vor der Trainerbank der Gäste das Leben.

Vielfach zertrümmert lag er darnieder.

Verständlich war dies angesichts der umstrittenen Entscheidung, die die zahlreichen Zuschauer, offiziell 1136, raunend mit »kannst du geben, musst du aber nicht« kommentierten. Und dies zumeist je nach Fanbase geteilt. Doch, so bitter das ist, in der Hessenliga gibt es keinen Videobeweis, der das »angeschossen aus zwei Metern« manches erbosten Fernwalder Anhängers hätte untermauern können. Dabei war das Drama am Ende im Glutofen Waldstadion, im Übrigen auf einem erstaunlich grünen Rasen, für den neutralen Beobachter ein gelungener Schlussakkord unter eine an irren Wendungen reichen Partie, die dem Begriff rassiges Derby aus unterschiedlichen Gründen jederzeit gerecht wurde. Und vor allem auch angesichts der ungesunden 35 Grad noch zum Anpfiff um 19 Uhr eine bei beiden Mannschaften erstaunliche Physis und Fitness zutage förderte.

Beide »Gießener« Hessenliga-Vertreter haben ihre Hausaufgaben gemacht, wobei der FC Gießen das über gut 70 Minuten unter Beweis stellte, der FSV Fernwald aber erst etwa zu diesem Zeitpunkt erwachte.

Erstaunlich war nicht nur, dass es unter den Anstrengungen und der Regie von Michèl Magel im Waldstadion nicht nur Außen rum deutlich reibungsloser zugeht, sondern auch Daniyel Cimen unter Beweis stellte, dass die auf den letzten Drücker zusammengeklaubte Mannschaft keine Resterampe ist.

Während Magel saubere Steine auf der Stehtribüne, ein freundlicher ausgestattetes VIP-Zelt und ein insgesamt einladenderes Ambiente bewerkstelligt hat, ist es erstaunlich, wie die Cimen-Elf innerhalb von vier Tagen bereits zu einem ansehnlich funktionierenden Ensemble gereift ist. Die berühmten Automatismen griffen bereits gut nach dem Stotterstart in Waldgirmes. Und die auch dort schon als gute Einzelkicker auftretenden Gießener zeigten das, was der 37-jährige Trainer sich vorgenommen hatte. Man wolle »dominant, offensiv und nach vorne spielen«, lautet Cimens Saison-Direktive, die seine Elf gegen einen tiefstehenden FSV Fernwald, der in Durchgang eins nicht präsent war, stark umsetzte. Einzig, und das bemängelte im Nachgang nicht nur der starke Routinier Michael Fink: »Wir müssen den Sack viel früher zumachen.« Tatsächlich war sein, »es hätte auch 4:1 stehen können, dann wäre nichts mehr angebrannt«, nicht übertrieben.

Wobei der blutleere FSV-Auftritt bis Minute 70 dann doch eine Transfusion bekam, einerseits aufgrund der Umstellungen von Daniyel Bulut, brachten doch die Einwechslungen von Burger, Woiwood und Grönke deutlich mehr Schwung. Andererseits war ab diesem Zeitpunkt aber auch zu erkennen, dass die Gießener Rückwärtsbewegung, wenn der Gegner mit Passstaffeten (stark in dieser Phase: Erdinc Solak) sich durchkombiniert, noch das Feintuning in der Abstimmung fehlt. So oder so dürfte Trainer Bulut zumindest damit zufrieden gewesen sein, dass seine Mannschaft eben doch kann, wenn sie will. Warum sie 45 Minuten allerdings nicht zu wollen schien, diese Frage werden sie in Fernwald, das einen klassischen Fehlstart hingelegt hat, noch analysieren müssen.

Und so lebte dieses Derby von einer spielerisch höchst attraktiv auftretenden Gastgeber-Elf, einem trotz lange klarer Unterlegenheit nicht aufsteckenden Gast sowie einem absolut rasanten und unabsehbaren Torfilm, der die Partie in der Nachspielzeit zu einem echten Krimi machte, der beiden Trainern sichtbar zusetzte. Für Fernwald mit einem bitteren Ende, das dem ehedem stattlichen weißen Plastikstuhl das Leben kostete. Nur Bruchstücke blieben zurück nach der nicht unbedingt zu verteidigenden, aber doch immerhin verständlichen Tat im Affekt.

Was wiederum zu einem anderen Thema des Abends führt: Nicht im Affekt, sondern schon das zweite Mal nahezu mit Ansage flippte der Fanblock »Äppelwoi-Commando« aus, war von der Gegenseite aus nur zu erkennen, dass es, wie schon in Waldgirmes, zu Handgreiflichkeiten und Gezeter kam. Eine Fan-Reaktion aus der neutralen Ecke blieb in den sozialen Medien nicht aus: »... während des Spiels wurden permanent Anhänger des FSV Fernwald angepöbelt und mit Kraftausdrücken beleidigt«, auch seien »Frauen und größtenteils ältere Männer mit Bierbechern beworfen worden«.

Michèl Magel ist auch da klar: »Wir haben das wie schon in Waldgirmes sehr genau wahrgenommen, werden noch einmal den Dialog suchen, aber so etwas hat in unserem Stadion nichts verloren. Das werden wir klar kommunizieren, denn das, was wir hier mit viel Arbeit versuchen aufzubauen, lassen wir uns so nicht kaputtmachen.« Dagegen ist ein Stuhl sicher zu verschmerzen.

Auch interessant