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Eine unglaubliche Nacht

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Gleich tobt ganz Deutschland: Klaus Fischer trifft in der Verlängerung per Fallrückzieher zum 3:3, nachdem es schon (nahezuaussichtslos) 1:3 gestanden hatte. Foto: dpa © dpa

Gießen . Wenn einem Fußballspiel im DFB-Museum in Dortmund eine Sonderausstellung gewidmet wird, dann will das was heißen. Auch und gerade, weil der Begriff »des Jahrhundertspiels« in der Sportberichterstattung oftmals inflationär gebraucht wird. Nicht jedes Finale aber taugt dafür, nicht jeder Sieg, nicht jede Niederlage, aber die Welt scheint mehr denn je nach Superlativen zu verlangen.

Wer aber im Fußball zuhause ist, der mag die höchste aller Weihen vermutlich vier Spielen der deutschen Nationalmannschaft angedeihen lassen: Klar, dem Wunder von Bern 1954, als die Walters dieser Welt sich gegen die unbezwingbaren Ungarn (»Rahn könnte schießen«) unsterblich machten.

Klar, 1970, das Halbfinale der WM gegen Italien im brütend heißen Aztekenstadion in Mexiko mit Schnellingers in die Verlängerung rettenden Ausgleich in Minute 90 und fünf Toren in einem 30minütigen Drama, das mit dem 4:3 für die Squadra Azurra endete.

Klar, 2014, das WM-Halbfinale in Belo Horizonte, als schon nach einer halben Stunde der Zuckerhut salzig schmeckte vom Tränenmeer der brasilianischen Fans - Deutschland: 5, Brasilien: 0 - und am Ende hieß es 7:1. Ein so unglaubliches Ergebnis, das man sich bei schlechtester Laune bei »YouTube« immer wieder anschauen kann, um sich ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Zumindest, wenn man kein Brasilianer ist.

Übrigens, das am Rande, fand auch dieses Semifinale am 8. Juli statt, jährt sich heute zum achten Mal, was allerdings im Fußball-Museum noch keinen Sonderausstellungs-Widerhall findet. Wir erwarten das im Jahr 2024.

Jetzt aber ist Zeit für die »Nacht von Sevilla«, heute vor genau 40 Jahren, am 8. Juli 1982. Ein Spiel, dessen Besonderheit nicht unbedingt in der Extra-Klasse des Fußballgeschehens lag, sondern in seinem Facettenreichtum, denn die am Ende 120 Minuten plus Elfmeterschießen ließen nichts aus, was im Fußball möglich ist - und irgendwie auch noch viel mehr. So viel mehr, dass sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt noch in der Nacht ein Telegramm an Frankreichs Staatspräsidenten Francois Mitterand sandte, mit Worten, die die Tragweite dieses Spiels vor Augen führen: »Das Gottesurteil, das jedem Zweikampf getreu den klassischen Mythen eigen ist, hat gewollt, dass das Glück im Spiel auf die deutsche Seite fiel. Wir fühlen mit den Franzosen, die den Sieg ebenso verdient hatten wie wir.«

Fußball-Diplomatie auf höchstem Niveau, eine Diplomatie, die nötig wurde, weil Deutschlands Torwart Toni Schumacher mit einer rüden Aktion gegen den Franzosen Patrick Battiston, der, so schien es damals, in Lebensgefahr schwebte, das Bild des »hässlichen Deutschen« wiedererstehen ließ. Die weithin eleganter spielenden Franzosen um die feingliedrigen Edeltechniker Michel Platini, Jean Tigana und Alain Giresse standen den Briegels, Försters und Hrubeschs gegenüber. Und einem letztlich die Wende einleitenden Karl-Heinz Rummenigge, dessen unbändigen Oberschenkeln sogar ein Lied gewidmet wurde.

Die »Nacht von Sevilla«, noch um 22 Uhr 32 Grad warm, bot alles, was man erwarten kann von einem Sportereignis. Und mehr. Oder, wie Michel Platini mit etwas Abstand in die Blöcke diktierte: »Die Gefühle eines ganzen Lebens habe ich in diesem einen Fußballspiel erlebt. Auch wenn wir verloren haben, so war ich doch Darsteller in einem großen Drama.«

Und so kommen wir nach langer Vorrede zum Anlass dieses Artikels: Denn Manuel Neukirchner, Direktor und Ausstellungsmacher des Deutschen Fußball Museums, hatte eine kongeniale Idee, die er ebenso kongenial umsetzte. Er hat »Die Nacht von Sevilla« in Buchform als das inszeniert, was sie war: Ein »Fußballdrama in fünf Akten.« Wie in einem Theaterstück stellt er die Personen vor, lässt sie dank feiner Recherchearbeit in Originalzitaten und danach geführten Interviews zu Wort kommen, bringt sie auch im Kommentar von Reporter Rolf Kramer auf die Bühne und in den Gedanken im und zum Spiel von den französischen und deutschen Akteuren sowie der Trainer Derwall und Hidalgo.

Am Ende dann ein Schlussakt mit den Pressestimmen, die fast unvorstellbar scheinen. So schrieb der Reporter der Liberation: »Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdiente es, im eigenen Urin ertränkt zu werden. Das deutsche Monster hat zu lange überlebt.« Oder der Reporter von »Paris Match«: »Immer noch die Gleichen. Sie haben sich nicht geändert. Preußen! Reichswehr! Luftwaffe!, Boches!« Der Hass galt Schumachers Attacke, die das französische Bewusstsein dieses Spiels prägte, während Pierre Littbarski (da ist der feingliedrige deutsche Techniker) es naturgemäß anders sah: »Ein Spiel in dieser komplexen Form gibt es nur alle 100 Jahre.«

Und ein Fußballbuch, wie jenes von Manuel Neukirchner wohl auch. »Die Nacht von Sevilla« als Drama in fünf Akten mit all diesen Zitaten, entlanghangelnd an den Minuten des Spiels und mit großformatigen Bildern ausgestattet, noch einmal aufleben zu lassen, war eine grandiose Idee, die grandios gelungen ist. Dieses Werk hat einen Preis verdient: als spannendstes und innovativstes Sportbuch überhaupt!

Manuel Neukirchner: »Die Nacht von Sevilla. Fußballdrama in fünf Akten.« Delius Klassing Verlag, 152 Seiten, 29,90 Euro.

Zugegeben: Der Autor dieses Textes ist besonders angefixt von der »Nacht von Sevilla«, da er selbst in jungen Jahren das Jahrhundertspiel live im Stadion miterleben durfte. Noch heute erinnere ich mich an Sonnenblumenkerne knabbernde Spanier, die als neutrale Zuschauer zunächst zu Deutschland, dann nach Schumachers Foul zu Frankreich hielten. Noch heute erinnere ich mich an die unsägliche Hitze, die aufgeheizten Betonstufen, an denen man sich die Beine verbrannte. Und an den Morgen vor dem Spiel, wo wir an der Kasse, ohne anzustehen, für drei Jungs für 18 Mark das Ticket kauften. Für das WM-Halbfinale, das zur Nacht von Sevilla wurde. (rd)

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