»Flexibilität gibt’s nicht mehr«

Nach der Saison ist vor der Saison: Henry Mohr zu den Entwicklungen im Fußball
Gießen . Henry Mohr ist seit dem vergangenen Dienstag ein Jung-68er. Sein ganzes Leben ist er dem Fußball verbunden, die Hälfte davon in offiziellen Funktionen und einen Großteil dieser Hälfte wiederum in hauptverantwortlicher Position als Kreisfußballwart.
Wem das jetzt zu kompliziert ist mit den Zahlen, dem ist trotzdem seit Jahr und Tag klar: Mit Henry Mohr ist im heimischen Fußball immer zu rechnen, man kann seit über 30 Jahren auf ihn zählen. Wie lange noch, das ist allerdings die Frage, die weniger am Alter als an den stetig wachsenden Herausforderungen festzumachen ist. Nach zwei Saisons irregulären, weil ständig bedrohten und auch unter- bzw. abgebrochenen Spielbetriebs aus bekannten Gründen, verlief die letzte Runde auch deshalb einigermaßen rund, weil das Spielmodell des gebürtigen Burkhardsfeldeners selbst dann eine Wertung ermöglicht hätte, wenn Corona erneut massiv zugeschlagen hätte.
Der Modus, die Hinrunde zu spielen, dann in Auf- und Abstiegsrunde zu unterteilen, hat sich insofern bewährt, als dass die dünnen Personaldecken, durch die Pandemie zusätzlich gebeutelt, nicht zu sehr strapaziert wurden. Das war z.B in Gruppen- und Verbandsliga oder anderen Kreisen, wo sich die Klubs gerade so über die weit entfernte Ziellinie schleppten, nicht immer der Fall. Henry Mohr, der den Fußball auch deshalb seit Jahrzehnten viel gelobt am Laufen hält, weil er nicht nur funktioniert, sondern darüber hinaus immer wieder Anreize setzt, die Fünfe grade sein lässt und, anstelle bürokratische Hemmnisse zu akzeptieren, die Vereine und den Sport in den Mittelpunkt rückt, ist müde im Moment. Denn mit dem Rücktritt von HFV-Präsident Stefan Reuß, aus seiner Sicht »im Hintergrund nicht sauber gelaufen«, nehme »die Bürokratie zu«, zudem seien auch die Vereine immer weniger bereit, »sich zu bewegen, es ist eher Egoismus als ein Miteinander auszumachen.« Corona hat auch im Fußball viele vermeintliche Gewissheiten ins Wanken gebracht, aber »ich werde weiterhin versuchen, die Vereine bei allen Entscheidungen mitzunehmen, auch wenn ich das nicht immer müsste«, sagt Mohr, der amtsmüde daherkommt vor der Saison 2022/2023.
Henry Mohr über Corona
Es ist ja noch nicht vorbei. Das bekommen wir jeden Tag zu hören. Wer weiß, was im Herbst oder Winter wieder auf uns zukommt. Deshalb müssen wir flexibel sein. Das soll nicht noch einmal mit dem gerade erprobten Modus geschehen, sondern mit kleineren Ligen. Die meisten Vereine sind nicht mehr bereit und in der Lage, deutlich mehr als 25 Spiele pro Saison zu machen. Was mich enttäuscht ist allerdings, wie oft die Corona-Nummer gezogen wurde. Es wurden in der Verbands- oder Gruppenliga Spiele abgesagt, das geht gar nicht. Wenn es einen Corona-Fall gab, wurde diese Karte ausgespielt, selbst wenn genügend Spieler,zum Beispiel aus der Zweiten, zur Verfügung gestanden hätten. Das hat aus meiner Sicht auch mit Respekt vor dem Gegner zu tun. Deshalb müssen wir verbindliche Regelungen bei einer erneuten Ausbreitung der Coronapandemie finden, um solche Situationen zu vermeiden. Schade ist, dass der DFB keine Zustimmung zu alternativen Spielmodellen gegeben hat. Lediglich im Falle von politischen Vorgaben könnte während der Runde umgesteuert werden. So ein wenig Bedenken habe ich schon, ob die zahlenmäßig großen Ligen so durchgeführt werden können.
...über die Neuaufteilung der Ligen
Ich bin zu dem Entschluss gekommen, aus den 38 B-Ligisten drei Klassen zu machen, weil die Vereine mehr Spiele nicht mehr hinbekommen. Wenn man sie fragt, ob sie lieber eine 13er- oder 17er-Liga hätten, sagen viele: 17 muss schon sein. Und am Ende beschweren sie sich, dass die Saison zu lange dauert und sie nicht mehr genügend Leute zusammenbekommen. Ein weiteres Beispiel ist die A-Liga. Da habe ich 19 Vereine. Alle waren der Meinung, dass das zu viel ist und nicht funktionierenj würde, aber dazu beizutragen, die Situation zu entschärfen, das will keiner. Das finde ich schade. Ich habe das Gefühl, die Vereine sind egoistischer geworden. Jetzt wechselt Heuchelheim II in den Nachbarkreis nach Wetzlar. Sie haben sich intern beraten und nach Gesprächen mit dem KFA sind sie mit dieser Lösung auch ganz zufrieden. Aber eine 18er-Liga ist eigentlich auch noch zu groß. Die wird aber jetzt gespielt, weil kein Verein bereit ist, nach Alsfeld zu wechseln. Obwohl sich einige beklagen, dass es immer noch zu viel sei.
Über die Schwierigkeiten mit den Spielplänen
Das ist nicht immer so einfach, wie es sich viele vorstellen, weil es für jede Liga einen bestimmten Schlüssel gibt. Um zum Beispiel zu gewährleisten, dass die Reserve immer das Vorspiel vor ihrer ersten Mannschaft hat, bedarf es einiger Detailarbeit. Das wissen die meisten gar nicht, was das bedeutet. Es ist ein enormer Aufwand. Ich habe deshalb die B-Ligen aufgeteilt. Eine Gruppe sind die ersten Mannschaften plus z.B. MTV III und Wettenberg III. Die Gruppe 2 sind die zweiten Mannschaften der Kreisoberliga. Und die Gruppe 3 stellen die Zweiten der A-Liga. Die beiden B-Ligen spielen nur mit 12 Teams, aber mit einem 18er Schlüssel. Das bedeutet, dass Erste und Zweite immer den gleichen Gegner haben. Heißt aber auch, dass sie zwischendurch mal spielfrei sind. Das ist nicht zu vermeiden.
Zu den Auswirkungen der neuen Liga-Aufteilung
Dadurch, dass keiner in die A-Liga Alsfeld/Gießen geht, werden wir in der A-Liga Gießen sechs Absteiger haben. Da muss man schon mal schlucken, das ist enorm. Aber ich habe mir extra noch einmal die Fahrtstrecken angeschaut, da sind natürlich schon enorme Unterschiede, was die Belastung eines Vereins angeht, der dorthin muss. Wir können keinen Verein zwingen, zu wechseln, aber dann müssen sie die Kröte mit den vielen Spielen und Absteigern schlucken. Das ist nicht anders zu machen. Wir werden auch wieder eine Relegation spielen. Das hat zusätzliche Auswirkungen, denn Alsfeld hat eine 15er-Liga, die machen also 28 Spiele und in Gießen sind es 34. Das sind im Hinblick auf die Relegation extrem unterschiedliche Anforderungen. Wir müssen langfristig schon da hinkommen, dass die Ligen in etwa gleichgeschaltet sind. Dass aber gerade unser Fußballkreis noch sehr gut aufgestellt ist, ist andererseits ja auch erfeulich. Das sieht man alleine daran, dass wir 105 Mannschaften haben und 19 davon sogar in den Nachbarkreisen spielen. Das ist schon enorm.
Zum bisherigen Top-Verein FC Gießen, der nicht mehr in der Regionalliga, sondern in der Hessenliga im Amateurbereich antritt
Ich denke, das Interesse hat in den letzten beiden Jahren sowieso schon erheblich nachgelassen. Auch in der Region fragt bei den Treffen kaum noch jemand nach dem FC Gießen. Wenn man Hessenligafußball sehen will, gibt es auch noch den FSV Fernwald. Aber es ist auch schön, dass wir jetzt ein Derby gegen den FSV Fernwald haben. Der FC Gießen reiht sich damit wieder in die normalen Verhältnisse ein. Der FC muss jetzt da durch und versuchen, sich als Verein wieder zu etablieren. Man muss aber auch sehen, dass in Hessen-, Verbands- und Gruppenliga die Zuschauerzahlen bei vielen Spielen nicht besonders hoch sind. Allein wegen den Entfernungen. Wer fährt zum Beispiel schon von Biebrich mit nach Pohlheim?
Zu den Auswirkungen des Rückzugs von Stefan Reuß und den Bedingungen in Hessen
Ich empfinde es so, dass im Hessischen Fußball-Verband nichts mehr rund läuft. Die beiden, die sich auf die Seite von Peter Peters geschlagen haben, sind Stefan Reuß ja in den Rücken gefallen, wohingegen wir im HFV alle Bernd Neuendorf als DFB-Präsident unterstützen wollten. Er hat nicht deshalb aufgehört, sondern aus beruflichen Gründen, aber er hat mit dem Wissen darum aufgehört. Für die Fußballkreise ist es derzeit so, dass, wenn du irgendwas bewegen willst, die Begrenzungen von oben zunehmen. Die bürokratischen Sachzwänge werden mehr. Flexibilität im Fußball gibt’s nicht mehr.
Zu Ärgernissen der abgelaufenen Saison
Es kann nicht sein, dass in der Verbandsliga sechs oder sieben Spiele kampflos gewertet werden. Das ist fast wie in einer bunten Liga. Gruppen- und Verbandsliga haben sich am Ende nur noch durchgeschleppt. Das war eine Farce. Vor allem, dass dann die Nummer mit dem einen Corona-Ausfall gezogen werden konnte, das haben Vereine ausgenutzt. Dass TuBa Pohlheim am letzten Spieltag nicht nach Niedernhausen gefahren ist, wird eine Strafe nach sich ziehen. Das geht einfach gar nicht. Aber auch in den unteren Ligen im Kreis gab es solche Absagen. Da müssen wir gegensteuern. Das ist unsportlich, unsolidarisch und respektlos.
Zur veränderten Einstellung der Spieler
Fußball ist wichtig, aber nicht mehr das wichtigste. Das ist das, was ich von vielen Spielern höre, wenn ich sie frage, wie sie sich die Ligen und die Frequenz der Spiele vorstellen. Das hat nichts mit Corona zu tun, sondern hat sich generell verändert. Als wir noch gespielt haben, da gab es ja nicht viel mehr. Kaum war das Spiel am Sonntagabend rum, hat man sich schon wieder auf den nächsten Gegner gefreut. Heute haben die Jungs viel mehr andere Aktivitäten und Möglichkeiten als nur ihren Verein. Die Spieler wollen nicht mehr 34 Mal in der Saison spielen, es reichen ihnen 25 Spiele. Auch die ehrenamtlichen Helfer wollen den Aufwand, jedes zweite Wochenende ein Spiel zu organisieren, den Platz abzustreuen oder die Wurst zu braten, oft nicht mehr leisten. Darauf muss der Fußball sich in Zukunft einstellen.
