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Fußballfest mit überraschendem Ausgang

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Günter Netzer und Frank Weißenfeldt führen ihre Mannschaften ins bis auf den letzten Platz gefüllte Gießener Waldstadion. Damals noch zu erschwinglichen Eintrittspreisen. Fotos: von Berg © von Berg

Gießen. In der über 600 Seiten starken Chronik von Borussia Mönchengladbach ist es nur eine Fußnote, für den heimischen Fußball jedoch das Spiel, das für den noch heute gültigen Zuschauerrekord im Gießener Waldstadion gesorgt hat. Die Rede ist vom Freundschaftsspiel zwischen dem VfB 1900 Gießen und den Gladbachern, das heute vor genau 50 Jahren, am 30.

Juli 1972, stattgefunden hat und 12000 Besucher anlockte.

Borussia Mönchengladbach war damals eine der Topadressen im deutschen Fußball. Die von Trainer Hennes Weiweiler über Jahre geformte Elf war 1965 in die Bundesliga aufgestiegen und hatte sich vor allem durch attraktiven Offensivfußball einen Namen gemacht. Bisweilen waren die Angriffe so ungestüm, dass sich ein Beobachter an junge Pferde erinnert fühlte und flugs waren die Gladbacher »Fohlen« in der Welt.

In jedem Fall war es eine echte Attraktion, als im Sommer 1972 in Gießen bekannt wurde, dass der Deutsche Meister der Jahre 1970 und 1971 gegen die Hessenligaelf des VfB 1900 spielen würde und noch dazu ankündigte, in stärkster Aufstellung im Waldstadion auflaufen zu wollen. Wie genau das Spiel zustande kam und welche Gage die Borussen damals aufriefen, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. In Gladbach hält man es jedoch für wahrscheinlich, dass die Initiative vom Bundesligisten ausging, der zu Freundschaftsspielen im süddeutschen Raum verpflichtet worden war und für die Rückreise gen Niederrhein noch auf der Suche nach einem Spielpartner gewesen sei, so dass die Wahl schließlich auf Gießen und den VfB 1900 fiel. Es war auch nicht die erste Begegnung der beiden Clubs, denn schon 60 Jahre zuvor, 1912, hatten sich ihre Wege im Halbfinale der Westdeutschen Meisterschaft gekreuzt. 5:0 hieß es damals für Gladbach, aber das Ergebnis hätte dem Spielverlauf und der Gießener Leistung keineswegs entsprochen, wie ein jetzt freundlicherweise aus dem Archiv der Borussen übermittelter Spielbericht nahelegt.

Wie auch immer, die Gladbacher hielten in jedem Fall Wort, denn mit Torhüter Kleff sowie den Feldspielern Vogts, Bonhof, Wimmer, Netzer und Heynckes präsentierten sie dem Gießener Publikum 1972 alleine sechs Nationalspieler, die im Aufgebot von Bundestrainer Helmut Schön gestanden und gerade die Europameisterschaft gewonnen hatten. Hinzu kamen Rupp und Sieloff, die ebenfalls Nationalspieler waren, sowie der Däne Jensen, der kurz vor seinem Debüt in der Nationalelf stand. Star der Elf war Mittelfeldregisseur Günter Netzer, der in Gießen in auffälligen blauen Fußballschuhen mit gelben Streifen auflief und noch bis kurz vor Anpfiff von Autogrammjägern umlagert wurde.

Da konnte den Spielern des VfB 1900, der eine durchwachsene Saison im hessischen Oberhaus hinter sich hatte, aber immerhin als aktueller Hessenpokalsieger angekündigt werden konnte, schon Angst und Bange werden, zumal Trainer Ottmar Groh auch noch mitten in der Saisonvorbereitung steckte und nicht sicher sein konnte, ob die zahlreichen Neuzugänge tatsächlich eine Verstärkung seiner Elf bedeuten würden. Als die Spielführer Weißenfeldt und Netzer die Seitenwahl erledigt hatten und Schiedsrichter Habach aus Allendorf/Lda. die Partie an jenem Sonntag pünktlich um 17 Uhr anpfiff, schien es deshalb auch nur noch um die Höhe des Gladbacher Sieges zu gehen, hatte der Bundesligist in seinen bisherigen Vorbereitungsspielen doch im Durchschnitt stolze sieben Tore erzielt.

Es zeigte sich jedoch schnell, dass die Amateure hochmotiviert zu Werke gingen, während die Profis zunächst ein wenig »lustlos« agierten. Die Zuschauer, die dem Spiel übrigens zu sehr moderaten Preisen beiwohnen konnten - eine Tribünenkarte kostete umgerechnet gerade einmal 4 und der Stehplatz 2,50 Euro - trauten jedenfalls ihren Augen nicht, als es kurz nach der Halbzeit plötzlich 2:0 für den Hessenligisten stand. Die Neuzugänge Fritzius und Milos hatten die Führung herausgeschossen und die »Fohlen« waren bis dahin nur durch einen Heber ans Lattenkreuz von Jensen und die Gelben Karten wegen Meckerns für Rupp und Netzer aufgefallen.

Ein Pfostenschuss von Heynckes in der 57. Minute deutete jedoch die Gladbacher Gefährlichkeit an. Zwei Minuten später fiel der Anschlusstreffer - abgefälschter Netzer-Freistoß nach zweifelhaftem Handspiel - und kurz darauf der Ausgleich durch einen Volleyschuss von Heynckes, der aus 30 Metern in den Winkel traf. Doch beim Abpfiff rissen die Gießener Spieler die Arme in die Höhe, denn sie hatten ein kaum für möglich gehaltenes Unentschieden gegen den großen Favoriten erreicht, während die Bundesligisten mit gesenkten Köpfen in die Kabine trotteten.

Bei Gladbach überzeugten eigentlich nur Vogts, Wittkamp und mit Abstrichen Jensen, während der VfB alle Erwartungen übertraf und eine geschlossene Mannschaftsleistung bot, wobei sich neben Torhüter Schmidt auch Sparre, Pörschke, Schäty und Krämer auszeichnen konnten.

Die heimische Presse berichtete anschließend von einem »sensationellen, aber verdienten Unentschieden« für den VfB und auch die Westdeutsche Zeitung aus Düsseldorf bescheinigte dem Gastgeber eine »starke Leistung«. Gießens Trainer Ottmar Groh sagte: »Ich bin restlos zufrieden. Meine Mannschaft ist mit dem Gegner gewachsen.« Lob bekam der VfB aber auch von Hennes Weisweiler: »Gießen überraschte uns. Eine kämpferisch starke Mannschaft, die auch einige gute Spieler hat.« Schließlich noch das knappe Resümee von Günter Netzer: »Das war mehr als ein normales Dorfspiel.« Der VfB 1900 konnte den Schwung aus der Partie jedoch nicht in den Ligaalltag retten, denn nach einem passablen Saisonstart blieb am Ende doch nur ein 10. Platz. Besser lief es hingegen im Pokal, in dem man sich als Drittplatzierter auf Landesebene erneut die Teilnahme am Süddeutschen Pokal sichern konnte. Und auch die Gladbacher, die in der Bundesliga »nur« Fünfter werden sollten, feierten in der Saison 1972/73 ihre großen Erfolge im Pokal, standen sie doch gleich in drei Wettbewerben im Finale. Zwar unterlagen sie im UEFA-Pokal dem FC Liverpool und im erstmals ausgetragenen Ligapokal dem Hamburger SV, doch dann kam der 23. Juni 1973 und das DFB-Pokalfinale gegen den 1. FC Köln, als sich Günter Netzer in seinem letzten Spiel für die Borussia zu Beginn der Verlängerung beim Stand von 1:1 die Trainingsjacke abstreifte und selbst einwechselte. Der Rest ist Geschichte.

Wolf-Dieter Sparre , der nur »Bubi« genannt wird, hat für den VfB 1900 zwischen 1964 und 1974 über 250 Hessenligaspiele bestritten und auch repräsentativ für Hessen gespielt. Hier erinnert sich der mittlerweile 76-Jährige, der in diesem Jahr auf 60 Jahre Mitgliedschaft im VfB 1900 zurückblicken kann, an das Spiel gegen Borussia Mönchengladbach, in dem er es mit Jupp Heynckes zu tun bekam: »Wir haben damals ja regelmäßig gegen Bundesligamannschaften und auch einmal gegen die Nationalmannschaft von Japan gespielt, aber das Spiel gegen Gladbach war schon etwas Besonderes, eine richtige Hausnummer. 12000 Zuschauer - ich glaube, die meisten von uns haben nie vor einer größeren Kulisse gespielt - und dann spielen wir auch noch Unentschieden. Das war schon toll, denn gegen die anderen Bundesligamannschaften haben wir ja immer verloren. Natürlich hat man gemerkt, was für Klassespieler die Gladbacher damals hatten, ich sage nur Günter Netzer, Jupp Heynckes oder Berti Vogts. Aber die haben uns anfangs nicht ganz ernst genommen und spätestens als wir 2:0 geführt haben, wollten wir natürlich auch nicht mehr verlieren. Woran ich mich noch gut erinnere und auch das zeigt, dass es für uns alles andere als ein gewöhnliches Spiel war: Ich wurde nach dem Abpfiff sogar um Autogramme gebeten.«

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gispor300722-gladbachtic_4c © Christian von Berg

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