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Geschichte(n) einer Meistermannschaft

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Es ist geschafft! Nach einem 4:1-Erfolg über den SV Hünfeld ist der VfB 1900 Gießen am 26. Mai 1963 Hessenmeister. Das Bild zeigt oben v. l. Vorstandsmitglied Grimm, Wolfgang Schmolke, Hans-Jürgen Himmelmann, Ernst Fischer, Karl Heinz-Wagner, Rudolf Ullrich, Arno Reeh, Vorstandsmitglied von Eiff, Spielausschussmitglied Schlitz; unten v. l. Trainer Willibald Kreß, Helmut Jacob, Gerhard Kraus. Dieter Giesa, Bernd Wampers, Josef Kaiser und Ersatzspieler Helmut Best. Foto: Archiv/von Berg © Archiv/von Berg

Gießen . Man tritt Hans-Jürgen Himmelmann, Helmut Jacob, Gerhard Kraus und Karl-Heinz Wagner sicher nicht zu nah, wenn man behauptet, die Hessenmeisterschaft, die sie 1963 mit dem VfB 1900 Gießen errungen haben, sei eine Überraschung gewesen. Schließlich deutete bei Rundenbeginn nichts darauf hin, dass am Ende der für Jahrzehnte größte Erfolg des heimischen Fußballs stehen würde, der zudem die Chance bot, in die damals zweithöchste Spielklasse, die gerade neugeschaffene Regionalliga Süd, aufzusteigen.

In der Vorsaison hatte man sich erst am letzten Spieltag und mit Mühe den Klassenerhalt im hessischen Oberhaus gesichert und von spektakulären Neuverpflichtungen, die auf zukünftige Höhenflüge hoffen ließen, konnte keine Rede sein. Einzig Trainer Willibald Kress ließ am Rande verlauten, natürlich wolle er Meister werden, aber realistisch betrachtet konnte das Saisonziel erst einmal nur Klassenerhalt lauten.

2:8-Klatsche als Wende

Dass es dann ganz anders kam, dafür gab es viele Gründe. Neuzugänge, die sich völlig unverhofft als überaus wertvolle Verstärkungen erwiesen, die Stabilisierung einer zuvor chronisch anfälligen Hintermannschaft, eine Sturmreihe, die in jedem Spiel für mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Tore gut war, die große Resonanz beim heimischen Publikum und nicht zuletzt der Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft, der selbst von herben Niederlagen - denn auch die gab es - nicht zu erschüttern war.

Lässt man die Saison Revue passieren, so scheint es nämlich ausgerechnet eine 2:8(!) Klatsche zu Beginn der Rückrunde in Burgsolms gewesen zu sein, die die Elf des VfB letztlich auf das Gleis in Richtung Meisterschaft gesetzt hat, auch wenn in der Presse anschließend von einer »Katastrophe« die Rede war und man sich plötzlich nur noch auf dem 6. Tabellenplatz wiederfand. Aber nach einer »Aussprache, die sich gewaschen hat« (Trainer Kress) folgten in den 13 noch ausstehenden Spielen elf Siege - darunter auch der 3:2-Heimerfolg über den großen Rivalen SV Wiesbaden vor der Rekordkulisse von fast 8000 Zuschauern - bevor es schon am vorletzten Spieltag nach einem 4:1-Heimsieg über den SV Hünfeld amtlich war, der VfB 1900 war Hessenmeister 1963.

Das Mannschaftsbild, das aus diesem Anlass entstand, zeigt elf Spieler in ihren schweißgetränkten Trikots und die Namen Jacob, Giesa, Schmolke, Ullrich, Kraus, Wagner, Kaiser, Himmelmann, Fischer, Reeh und Wampers sind so manchem heimischen Fußballfreund bis heute in Erinnerung geblieben. Obwohl der Kader der Mannschaft natürlich größer war, denn insgesamt 23 Spieler kamen im Lauf der Saison zum Einsatz. Darunter etwa Georg Modrovics, den der Ungarn-Aufstand einst nach Gießen verschlagen hatte, der hier nun Tiermedizin studierte und in den Vorjahren noch Stammspieler gewesen war. Oder auch der junge Helmut Best, der auch auf dem Mannschaftsbild zu sehen ist und sowohl im Feld als auch im Tor spielen konnte. Und nicht zu vergessen Gerfried Krallert, der noch A-Jugendlicher war und fast zeitgleich mit dem Meisterschaftsgewinn zum Jugend-Nationalspieler wurde.

Hans-Jürgen Himmelmann, Helmut Jacob, Gerhard Kraus und Karl-Heinz Wagner zählten hingegen zum festen Stamm der Gießener Mannschaft und haben auf ganz unterschiedliche Weise ihren Teil zum Titelgewinn beigetragen. Da war zunächst der damals gerade einmal 21-jährige Torhüter Helmut Jacob, der 1960 vom MTV auf den Waldsportplatz gekommen war, das Fußballspielen aber bereits vorher bei der Spielvereinigung 1900 erlernt hatte. Er war bereits in seiner zweiten Saison der Stammtorhüter der Gießener und trug viel dazu bei, dass der VfB in seiner Meistersaison so wenig Gegentore wie seit Jahren nicht mehr hinnehmen musste. Immerhin sieben Mal konnte er seinen Kasten sogar gänzlich sauber halten. Kuriosum am Rande: Einen Ersatztorhüter hatte der VfB damals nicht und im Fall der Fälle hätte statt Jacob ein Feldspieler zwischen die Pfosten gemusst.

Dirigiert wurde die vor Jacob agierende Defensivabteilung von Mittelläufer Gerd Kraus, der sogar noch zwei Jahre jünger als sein Torhüter war und gerade erst aus der Jugend des MTV 1846 Gießen zum Nachbarn VfB 1900 gewechselt war. Trainer Kress traute Kraus jedoch die zentrale Position in der Verteidigung zu und Anpassungsprobleme an die höchste Amateurklasse waren für den Benjamin der Meistermannschaft auch nie ein Thema. So kam der ehemalige Spieler der süddeutschen Jugendauswahl auch gleich in 27 von 30 Punktspielen zum Einsatz und konnte sich zudem auch einmal in die Torschützenliste eintragen.

Gleich 22 Tore hat hingegen VfB-Eigengewächs Hans-Jürgen Himmelmann in der Meisterschaftssaison erzielt, wobei sich der damals 25-Jährige und meist auf Halbrechts aufgebotene Stürmer sowohl durch seine Kopfballstärke wie seine Torgefährlichkeit ausgezeichnete. Und das sowohl mit dem rechten wie mit dem linken Fuß - damals durchaus eine Besonderheit und auch ein Qualitätsmerkmal. Ohne Zweifel war Himmelmann so etwas wie der »Star« der Gießener Elf, schließlich gehörte er schon Jahre zum Stammpersonal der hessischen Amateurauswahl und spielte auch in der Nationalelf der Amateure. Wohl auch ein Grund, dass er sich schon einmal gestattete, seine Trainingsplanung »individuell« zu gestalten.

Demgegenüber war Karl-Heinz Wagner, der 1957 aus Allendorf/Lahn zu den Gießenern gestoßen war, eher der klassische Mannschaftsspieler, der als defensiv orientierter Außenläufer nicht versuchte individuell zu glänzen, sondern die ihm übertragene Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen. Ohne solche Spieler gewinnt man in einem Mannschaftssport wie Fußball in der Regel wenig bis nichts. Zusammen mit Kapitän Wolfgang Schmolke zählte er mit seinen 26 Jahren damals übrigens schon zu den »Senioren« im Team.

Erwähnen sollte man aber auch Ernst Fischer, der aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem Treffen der ehemaligen Gießener Meisterspieler teilnehmen konnte. Mittelstürmer wie ihn sucht man heute meist vergebens, galt der 23-jährige Ex-Gladenbacher in seiner aktiven Zeit doch als »prachtvoller Reißer«, der immer für einen Treffer gut war. In der Meistersaison musste er jedoch verletzungsbedingt lange zuschauen und kam wohl deshalb am Ende »nur« auf 16 Tore. Und noch etwas war bemerkenswert an ihm, denn bevor er 1961 nach Gießen kam, hatte er bereits ein Jahr im Ausland, in der Schweiz, gespielt - seinerzeit alles andere als alltäglich.

Willibald Kreß - der Trainer war der Star

Das bekannteste Gesicht der Gießener Meistermannschaft war aber Trainer Willibald Kress, der eigentlich Wilhelm hieß, aber von jedermann nur Willibald gerufen wurde. Es ist kaum möglich, seinen Stellenwert im deutschen Fußball zu überschätzen. Zwischen 1926 und 1949 für mehr als zwei Jahrzehnte immer in der 1. Liga am Ball, 16 Länderspiele, erster deutscher WM-Torhüter, Deutscher Meister und Pokalsieger, Sieger im Bundes- wie im Reichsbundpokal usw. usf. Dann von Sepp Herberger zum Fußball-Lehrer ausgebildet, Gesamtnote »sehr gut«, und erster Verbandstrainer im Hessischen Fußballverband. Schließlich Oberliga-Trainer beim FSV Frankfurt und bei Wormatia Worms sowie in der 2. Liga West beim Wuppertaler SV. Dass ein Mann mit einer solchen Vita 1961 in Gießen und als Trainer beim VfB 1900 aufschlug, war im Grunde kaum zu glauben.

Seinen ehemaligen Gießener Spielern ist er bis heute vor allem als »Vaterfigur« in Erinnerung geblieben, die sich um Fußballschuhe für seine Spieler ebenso kümmerte, wie um die medizinische Versorgung oder auch den passenden fahrbaren Untersatz - in dem er nämlich einfach seinen eigenen Wagen verschenkte.

Kress, der mit dem Beginn seiner Tätigkeit beim VfB auch nach Gießen übersiedelte und nicht mehr hauptberuflich als Fußball-Lehrer arbeitete, hat bis zu seinem Tod 1989 in Gießen gelebt. Er trainierte nach seinem Engagement beim VfB, das 1965 endete, noch viele andere Vereine im heimischen Raum bis in die B-Klasse. Er betreute Jugendmannschaften und war sich auch nicht zu schade, wenn Not am Mann war, auch nur für ein einziges Spiel auf der Trainerbank Platz zu nehmen. Dass die Verantwortlichen im heimischen Fußball bis heute noch keine Form gefunden haben, wenigstens in irgendeiner Art und Weise an diesen großen Fußballer zu erinnern, ist, diese Bemerkung sei gestattet, eine »Leistung« ganz eigener Güte.

Die Meistermannschaft des VfB 1900 hat nach dem Titelgewinn übrigens nur noch ein gemeinsames Pflichtspiel bestritten, das Halbfinale der Süddeutschen Amateurmeisterschaft gegen den VfB Stuttgart II, das in Wiesbaden mit 2:4 verloren wurde. Damit war auch die Chance auf den Aufstieg in die Regionalliga dahin und Hans-Jürgen Himmelmann wechselte als Vertragsspieler zu Borussia Fulda. In den folgenden Jahren packten nach und nach aus den unterschiedlichsten Gründen aber auch viele andere Meisterspieler ihre Koffer und verließen den Waldsportplatz. Dieter Giesa, der in der Meisterelf rechter Verteidiger gespielt hatte, war in der Saison 1973/74 der letzte Hessenmeister, der noch das Trikot des VfB 1900 trug. Trainer war zu diesem Zeitpunkt sein alter Mannschaftskapitän Wolfgang Schmolke, Karl-Heinz Wagner kümmerte sich nun um das Management des Hessenligisten. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

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