Goethe, Switzerdütsch und die Zahnfee

Dutenhofen. Lukas Becher sitzt auf dem Ballenboden und kramt immer wieder in der vor ihm liegenden Zettelbox. Der junge Mann muss lernen. Formeln, Begriffe, Statistiken. Am Nachmittag steht eine Ökonomie-Prüfung für sein Sportmarketing-Studium an. Da zählt jede freie Sekunde.
Viele, viele Minuten allerdings muss der Neuzugang der HSG Wetzlar bei der gestern Vormittag angesetzten Leistungsdiagnostik des heimischen Handball-Bundesligisten zubringen. Auf sechs Stationen werden die alten und neuen Profis der Grün-Weißen in der Dutenhofener Halle auf ihren körperlichen Zustand untersucht.
Schwerpunkt: Wie schaut es mit den Gelenken der überstrapazierten jungen Männer aus? »Insgesamt«, so erklärt Athletiktrainer Thomas Reichel, »haben wir hier die Palette der wichtigsten Diagnostiken, um dann später auch Trainingsempfehlungen aussprechen zu können.« Von Mannschaftsarzt Marco Kettrukat über Experten von Foodpower bis hin zu Spezialisten der Gießener Uniklinik reicht das Arsenal der Spezialisten, die an diesem Vormittag schauen, wie es um das körperliche Wohl der mittelhessischen Hoffnungsträger bestellt ist. Einer allerdings fehlt. Muss fehlen.
HSG-Cheftrainer Ben Matschke, der am Montag noch seinen 40. Geburtstag beging, ist am Donnerstagmorgen positiv auf Corona getestet worden. Zum Glück weist er bislang nur leichte Symptome auf. Dafür leitet der neue Assistenztrainer Filip Mirkulovski die Testeinheiten. Wie es sich anfühlt, erstmals Chefcoach zu sein, wird der bisherige Spielmacher gefragt. »Gut«, sagt er und muss lachen, »ich freue mich aber doch einfach nur darüber, dass ich nach meiner Spielerkarriere bei der HSG bleiben konnte. Jetzt will ich meine Erfahrungen an die jungen Spieler weitergeben.«
Und junge Spieler haben die Domstädter reichlich. Mit einem Altersdurchschnitt von gerade mal 25 Jahren dürften sie eines der jüngsten Teams in der vermeintlich stärksten Liga der Welt stellen. Und einer dieser jungen Spieler ist eben auch Student Lukas Becher.
Was der 22-Jährige, der von TuSEM Essen kam, denn über Wetzlar bereits weiß, ob er denn Goethe beispielsweise kennt, ist eine der Fragen. »Der war doch als junger Mann hier, hatte für ein paar Monate eine Freundin und ist dann schnell wieder weg«, so die köstliche Antwort des gewitzten Linksaußen. Besser und lustiger kann man »Die Leiden des jungen Werther« wohl kaum in einen Satz fassen.
Überhaupt scheint sich HSG-Trainer Matschke, der sich persönlich um diese Verpflichtung gekümmert hat, da ein ebenso kluges wie selbstbewusstes Talent geangelt zu haben. »Ich«, so sagt Becher, »habe mir jetzt keine Ziele für die nächste Saison gesetzt, die sich in Zahlen messen lassen. Ich möchte mich einfach weiterentwickeln und der Mannschaft helfen.« Weiterentwickeln, so weiß Becher, kann er sich noch in den Bereichen »Cleverness und Abgezocktheit« - »da kann ich noch viel von den älteren Mitspielern lernen«. Seine Stärken sieht er im Tempospiel, aber auch in seiner Abwehrarbeit, in der er eben nicht nur Außen decken kann.
Und noch ein junger Neuer macht Lust auf die kommende Saison. Der Schweizer Jonas Schelker soll die Lücke auf der Spielmacherposition schließen, auf der in der vergangenen Saison Magnus Fredriksen einfach zu viele Überstunden leisten musste. Der 23-Jährige kam von den Kadetten Schaffhausen nach Mittelhessen. Und freut sich erstmal: »Das ich mit meinem Landsmann Lenny Rubin jetzt in einer Mannschaft spielen kann, ist natürlich ein Traum.« Und fügt mit einem breiten Grinsen hinzu: »Lenny kann man hier vieles erklären und das vor allem auf Switzerdütsch.«
Auch Schelker hat den Schalk im Nacken. Ähnlich wie Becher. Da trifft es sich gut, dass die beiden Talente nahe beieinander in der Wetzlarer Altstadt wohnen. Auf Wohnungssuche wiederum ist ein Altbekannter in den Reihen der Grün-Weißen. Vladan Lipovina, der einst seine Auslandskarriere an der Lahn startete, ist nach mehrere Stationen wie den Rhein-Neckar Löwen oder Balingen-Weilstetten nun wieder ins grün-weiße Trikot geschlüpft. Und aus dem einstigen Wunderknaben ist nun ein Familienvater geworden. Noch weilen seine Frau und der zehnmonatige Sohn in der Heimat in Montenegro, aber sobald der Rückraumhüne eine entsprechende Wohnung gefunden hat, soll die Familie nachkommen. Wie er sich bei seiner Rückkehr fühlt? »Früher«, so sagt er, »war ich hier fast der Jüngste und jetzt bin ich in dieser Mannschaft fast schon ein alter Mann.« Aber genau diese alten Männer können die jungen Wilden aus der Domstadt gut gebrauchen. Erfahrung hat noch nie geschadet.
»Die Mannschaft«, schildert Lipovina sein erstes Empfinden, »sieht gut aus. Es gibt viele Talente. Wir sind auf allen Positionen gut besetzt. Aber man weiß natürlich gerade in Corona-Zeiten auch nie, wie eine Saison dann wirklich läuft.« Wie eine Saison wirklich läuft, ob sich der grandiose siebte Platz der vergangenen Runde wiederholen lässt, das kann tatsächlich keiner wissen.
Damit aber nichts dem Zufall überlassen bleibt, werden an diesem Mittwochvormittag alle wichtigen körperlichen Werte ermittelt. Alles medizinisch Mögliche soll versucht werden, um schweren Verletzungen vorzubeugen. Und später stehen sogar noch Zahnuntersuchungen an, um etwaige Infektionsherde frühzeitig aufzuspüren.
Nichts, aber auch gar nichts soll Zufall sein. Nur der vermaldeite Corona-Virus lässt sich nicht planen. Und so steht zu befürchten, dass die HSG am Samstag ohne Cheftrainer Matschke ins Trainingslager reist. Alleine dieser Gedanke trübt die ansonsten prächtige Aufbruchstimmung an diesem Tag in Dutenhofen.
