»Hungern für Gold«

Gießen (red). »Plötzlich hielt ich inne, starrte auf den Teller, der auf dem hellgrauen Tablett stand, sah die halbe Maultasche, die in der Pilzsoße schwamm als sei sie ein lebendiges Wesen Aber ich muss das loswerden, ich muss diese verdammte Maultasche auf der Stelle loswerfen. Aber um sie loszuwerden, muss du sie erst einmal essen.« Mit diesen Worten in ihrem so eben erschienen Buch »45 Sekunden« schildert die 34-jährige Kim Bui, wie eines der dunkelsten Kapitel ihres Lebens begann - der Beginn einer drastischen Essstörung, einer Bulimie.
Fünfzehn Jahre war sie damals und es sollte fünf Jahre dauern, bis sie mit Hilfe einer Therapeutin die Bulimie hinter sich lassen konnte.
»Es hatte damit angefangen, dass wir uns beinahe jeden Tag wiegen lassen mussten. Und dann fielen von Trainern so Sätze wie: ›Du muss mal etwas auf dein Gewicht achten, du hast 100 Gramm zu viel drauf.« Seit der Bewältigung dieser Lebenskrise, auch das erzählt die Stuttgarterin, sei ihr keine Waage mehr ins Haus gekommen.
Kim Bui ist eine der erfolgreichsten deutschen Turnerinnen der Gegenwart: Dreimal nahm sie an Olympischen Spielen teil, an unzähligen Welt- und Europameisterschaften, holte über 30 Medaillen bei Deutschen Meisterschaften und krönte ihre beeindruckende Karriere im vergangenen August mit dem Gewinn von Mannschafts-Bronze bei den Europameisterschaften in München.
Zu diesem Zeitpunkt war sie, einzigartig, seit beinahe 20 Jahren Mitglied der deutschen Nationalmannschaft und 33 Jahre - im Turnen ein Greisenalter.
Aufgeschrieben hat die bewegte und bewegende Geschichte der Turnerin Andreas Matlé, seit 20 Jahren Pressesprecher der OVAG in Friedberg. »45 Sekunden« ist sein siebtes Buch. »Kim ist mir erstmals aufgefallen, als sie vor zwei Jahren in ihrer Rolle als Aktivensprecherin der Nationalmannschaft vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Missbrauch im Turnen sprach.« Ein weiteres Mal, als die deutschen Turnfrauen kurz darauf auf internationaler Bühne erstmals mit langen Turnanzügen auftraten, um ein Zeichen gegen Sexismus im Sport und für die Selbstbestimmung zu setzen. Ein Schritt, der weltweit in Schlagzeilen Niederschlag fand.
»Schließlich«, so Matlé, »las ich während der Olympischen Spiele in Tokio einen Post von ihr bei Instagram: ›Hurra, ich bin so stolz auf mich. Ich bin heute die siebzehntbeste Turnerin der Welt geworden.‹ Das war für mich der Ruf nach Respekt vor der Leistung, wo ja gerade im Sport oft ab Platz vier die Verlierer eingeordnet werden.«
Andreas Matlé nahm nach den Spielen Kontakt mit Kim Bui auf, die beiden trafen sich und waren sich schnell darüber einig, dass die »Chemie« für ein Buch vorhanden sei. »Als ich die Idee beim Verlag Edel Books in Hamburg vortrug, war man dort sofort Feuer und Flamme und schloss schnell einen Vertrag mit uns.« Im Frühjahr 2022 setzten sich Kim Bui und Matlé für vier Tage in einem Hotel im Schwarzwald zusammen. »Ich habe gespürt, wie sie regelrecht davon brannte, das los zu werden, was über so viele Jahre in ihrem Inneren gegärt hatte«, sagt Matlé.
Eine reine Sportler-Biographie zu Papier zu bringen (»Geschichten aufzuschreiben ist für mich neben meinem Beruf als Pressesprecher ein idealer Ausgleich«), hätte ihn nicht gereizt. Vielmehr die Vielschichtigkeit in der Person und der Geschichte der Kim Bui.
Es geht etwa um Identität (ihre Eltern sind ehemalige Boat-People aus Vietnam und Laos), um die Frage, wie sich ein Mensch nach zwei Kreuzbandrissen noch motivieren kann, um Höchstleistungen zu bringen und nebenher einen Master in Krebsforschung zu erreichen, um psychischen Missbrauch, der von Trainern ausgeht, um eine für einen Leistungssportler unwürdige Entlohnung, um die Ungleichbehandlung von Mann und Frau und Sexismus, um die Schwierigkeit, vor diesem Hintergrund eine Beziehung führen zu können, es geht um den Kampf um die Anerkennung der Leistung anderer Menschen an sich, um das jahrelangen Ringen um Anerkennung. Etwas, was Bui erst bei ihrem letzten Wettkampf im August 2022 erfahren hat.
Gleichzeitig beschreibt Kim Bui ihre Leidenschaft zum Turnen - für sie nach wie vor die schönste Sportart der Welt, die Höhenflüge bei Meisterschaften, setzt sich aber nachdrücklich für einen menschenwürdigen Leistungssport ein. Was das Buch umso glaubwürdiger und authentischer macht - denn es ist alles andere als eine billige Abrechnung mit einzelnen Personen, die Kim Buis Weg gekreuzt haben.
In der ARD-Mediathek steht eine Dokumentation mit Kim Bui: »Hungern für Gold« zur Verfügung.
Kim Bui stellt ihr Buch bei »Der Vulkan lässt lesen« vor: Am 9. Mai in der Stadthalle von Homberg und am 2. Juni (jeweils um 20 Uhr) in der Aula der Sparkasse Oberhessen in Lauterbach.
»Kim Bui - 45 Sekunden« von Andreas Matlé, Edel Sports, 304 Seiten mit Bildstrecke, 19,95 Euro.

