In der Mitte angekommen

Waldgirmes . Treffpunkt in Waldgirmes. Ein Café ziemlich genau in der Mitte der langgezogenen Lahnauer Gemeinde. Am Ortseingang wohnt Marco Gerhardt, am Ortsausgang liegt das Sportgelände des SC Waldgirmes, seit Jahren ein Garant für grundsoliden (leistungs-, aber nicht über die Maßen leistungsbezogenen) Fußball. Vor dem SCW ziehen sämtliche fußballaffine Mittelhessen den Hut, solide, vernünftig, gut strukturiert ist der Verein.
Und das, obwohl die Waldgirmeser mit einem Team in der Hessen- und einem in der Verbandsliga angesiedelt sind, das hat ordentlich Niveau, das kostet auch ein bisschen was, aber übertrieben haben sie es hier nie - oder nur selten. Und wenn, dann waren sie auch rasch wieder auf dem Boden der Tatsachen, ruckzuck geerdet sozusagen. Der SC Waldgirmes war, ist und bleibt ein familiärer Verein, das muss man wissen, wenn man diese Geschichte liest.
Nun sitzt man hier im Herzen des Ortes mit Marco Gerhardt am Tisch, sein älterer Bruder Markus, der früher selbst beim SCW die Fußballschuhe geschnürt hat, kommt auch hinzu. Er hat erst am Sportplatz gewartet, hatte im Kopf, dass der Termin dort stattfinde. Das ist kein Zufall, denn das Sportgelände am Rand ist durchaus ein Zentrum des Ortes, nicht nur für die beiden Brüder. »Waldgirmes ist schon mein Ding«, wird der 39-jährige Marco später sagen, als es darum geht, warum er nicht in Erwägung gezogen habe, zu seinem Bruder in dessen Haus nach Niederbiel zu ziehen. Dass die beiden sich blendend verstehen, ist offensichtlich, dass der »kleine Bruder« dann aber doch autonom entschied, in seiner Wohnung zu bleiben, ist ein Aspekt der Geschichte, der auch zeigt, dass er es geschafft hat.
Denn es gibt typische Fußballgeschichten und besondere Fußballgeschichten - die von Marco Gerhardt ist eine besondere. Eine ungewöhnliche auch, weil sie in dieser Offenheit und mit solcher Überzeugung vom Protagonisten nur selten erzählt wird. Nicht das typische Ehrenamtsding über einen Menschen, der in 18 Jahren als Betreuer, Zeugwart, Mann für alle Fußballfälle vielleicht zehn Spiele verpasst hat, immer längst da ist, wenn das Training beginnt und immer noch aufräumt, wenn die Spieler langsam gehen. Der jeden Samstag und Sonntag auf dem Platz verbrachte (und wieder verbringt), von allen geschätzt für das, was er leistet, aber auch so, wie er ist. Als Mensch. »Nein, Ehrungen, das ist nicht so meins«, sagt Marco Gerhardt. Er steht nicht gerne im Mittelpunkt, zu viel Aufhebens um seine Person ist ihm unangenehm. Dass er jetzt aber doch öffentlich in Erscheinung tritt, hat mit einem neuen Selbst-Bewusstsein zu tun - mit Absicht auseinandergeschrieben - und der Tatsache, dass er etwas zurückgeben will. Aber vielleicht auch mit seiner Geschichte anderen helfen kann. Denn Marco Gerhardt ging es, damals nach dem 20. Juni 2022, als seine Mutter Helga starb, schlecht, richtig schlecht. 68 Jahre alt war sie erst, gesundheitlich zwar nicht auf dem Damm, aber urplötzlich kam er trotzdem, ihr Tod. Sohn und Mutter wohnten zwar in verschiedenen Wohnungen, aber im gleichen Wohnblock am Ortseingang Waldgirmes. »Es hat mir«, so erzählt der 39-Jährige, »den Boden unter den Füßen weggezogen.« Da kam, so weiß auch sein sehr zugewandter Bruder Markus, »ganz viel zusammen.« Der nie ganz verarbeitete Tod des Vaters Klaus-Jürgen im Jahr 2013, aber auch, dass Marco selten, ja nie, an sich gedacht habe. Welche Rolle er eigentlich selbst spielt - in seinem Leben. Welchen Platz er einnimmt. Oder einzunehmen gedenkt. »Ich habe das ja alles irgendwie doch geschafft, in meinem Job im Service der Lahn-Dill-Klinik habe ich mich ab 2009 hochgearbeitet, aber ich habe eben auch überall nur rund um die Uhr funktioniert.« Auch seine Tätigkeit als Mädchen für Alles beim SC Waldgirmes war ein Rund-um-die-Uhr-Ding. Das aber hat Marco Gerhardt erst jetzt so richtig verstanden. »Als meine Mutter gestorben ist, hatte ich das Gefühl, dass es mich gar nicht richtig gibt.« Marco Gerhardt, das wird schnell deutlich, kann schlecht nein sagen, aber er lernt es jetzt langsam. Auch weil beim SC Waldgirmes in dem Moment, als es ihm dreckig ging, alle »Ja« zu ihm gesagt haben. »Das war unglaublich«, erzählt er - und beschreibt die Quintessenz dessen, was diese Geschichte auch transportieren soll. Nämlich welch tragende (und tragfähige) Rolle so ein Verein, so eine Gemeinschaft spielen kann, wenn sie den auffängt, der plötzlich nicht mehr er selbst ist. Als seine Mutter starb, ist Gerhardt regelrecht »eskaliert« im Krankenhaus, wurde mit einem Krankenwagen umgehend in die Vitos-Klinik nach Herborn gebracht, mit Beruhigungsmitteln und einem Therapieplan versehen. »Ich dachte, ich bin nach ein paar Tagen wieder raus, aber die haben eine ganz auf mich abgestimmte Therapie angewandt, am Ende waren es sechs Wochen, in denen ganz viel aufgearbeitet wurde«, erzählt Gerhardt, der mit dieser Erfahrung die Botschaft verbreiten mag, man solle sich unbedingt Hilfe holen, sie annehmen, wenn es nötig ist. Man solle keine Angst vor vermeintlicher Schwäche zeigen, die tatsächlich doch wahre Stärke bedeutet. Eben zulassen zu können, dass man nicht mehr kann. Nicht mehr funktioniert.
In der (immer noch) etwas raueren Vereins- und Sportlerwelt mit ihrem klaren Männerbild ist das nicht einfach. In Waldgirmes aber sah das ganz anders aus. Alle waren da für Marco Gerhardt, als er weg vom Fenster war, keine Kraft mehr hatte. Spieler und Verantwortliche haben ihm mit unzähligen Whats-App-Nachrichten Mut gemacht, sie haben ihn täglich besucht, mit Karl Cost und Felix Erben übernahmen zwei sogar den Job, die Wohnung seiner Mutter auszuräumen. Sie haben angerufen und mit ihm das Gespräch gesucht, waren aber auch zurückhaltend, wenn er nicht sprechen konnte. Dass die aktuellen Spieler, Trainer, Funktionäre für »ihren Marco« da waren, ist die eine Seite der Waldgirmeser Medaille, die auch eine andere hat. Und die spricht von langer Verbundenheit, selbst dann, wenn das Kapitel schon längst beendet ist. Thorsten Krick, in Gießen wohnender Ex-Trainer, der den SC bis Oktober 2011 sechs Jahre lang betreute, ist das Paradebeispiel. Und für Marco Gerhardt ein ganz wichtiger Bezugspunkt, den er unbedingt erwähnt haben möchte. »Ich habe mit Kricki immer noch guten Kontakt. Als ich ihn zum Beispiel 2013 angerufen habe, dass mein Vater gestorben ist, hat er auf der Autobahn zur Arbeit nach Frankfurt umgedreht und ist zu mir gekommen«, sagt Gerhardt, »er war immer für mich da. Und hat mich auch jetzt wieder sehr unterstützt, als ich in der Klinik war.« Der 51-jährige ehemalige Torschützenkönig des VfB Gießen war es auch, der ihm damals den Job vermittelte.
Marco Gerhardt ist nach einer verdammt harten Zeit wieder beim SC Waldgirmes angekommen - und zum vielleicht ersten Mal auch bei sich selbst. Er hat einerseits gelernt, sich Zeit zu nehmen, wenn er sie braucht, andererseits aber sagt er fast ein wenig trotzig, »habe ich letzten Sommer ja fast die gesamte Vorbereitung verpasst«. Das wurmt ihn schon. Denn auch, wenn er mehr auf sich zu achten gelernt hat, stellt der SCW selbstverständlich weiter den Mittelpunkt seines Lebens dar. In der Trauerkarte der Mannschaft lag ein Gutschein für ein Spiel am Betzenberg, Marco Gerhardt ist Kaiserslautern-Fan, die Reise dorthin gilt es noch einzulösen. Und dann erzählt er noch »von unserem größten Erfolg«, als der »kleine SC Waldgirmes am Böllenfalltor gegen Darmstadt 98 2:1 gewonnen hat.« Marco Gerhardt war dabei. Ein Marco Gerhardt, der damals noch ein anderer war.
Heute sagt er: »Ich habe gelernt, dass es Wichtigeres gibt, als ein 2:1 oder ein 1:2, nämlich dass das Gefüge dich trägt, dass du Halt bekommst, wenn es mal nötig ist.« Marco Gerhardt, so könnte man sagen, ist in der Mitte angekommen, nicht nur von Waldgirmes.