In doppelter Überzahl alles verspielt
Wetzlar. Am Anfang brüllt AC/DC durch die Buderus-Arena, die Fans klatschen, johlen und trommeln wie vor einem WM-Finale. Doch nach dem Schlusspfiff herrscht Ruhe auf den Stehplätzen. Gespenstische Ruhe. Nur von einzelnen Pfiffen unterbrochen. Schockstarre in der Domstadt. Der tagelang beschworene Schulterschluss zwischen Anhängern und Spielern der HSG Wetzlar endet vorerst auf der Geisterbahn, die weiter gen Abstieg ruckelt und zuckelt.
Mit 22:28 verliert der heimische Handball-Bundesligist auch gegen den Bergischen HC und taumelt nun den beiden weiteren Schlüsselspielen im Abstiegskampf in Stuttgart und dann zu Hause gegen GWD Minden entgegen.
HSG Wetzlar - Bergischer HC 22:28
Dabei kommt die erste Halbzeit tatsächlich noch wie ein Mutmacher daher. Wie ein ganz, ganz starkes Zeichen, dass nun alle, aber auch wirklich alle, von Würstchenverkäufer über Logen-Besucher, von Ersatzmann bis Nationalspieler verstanden haben, was im Abstiegskampf gefragt ist. Kampf, Kampf und nochmal Kampf. Vor dem Anpfiff röhrt Brian Johnson sein »Thunder, Thunder« durch die Halle. Und der AC/DC-Hit unterstützt die grün-weißen Fans, die gleichmal klar machen, was an diesem sonnigen Nachmittag in der Buderus-Arena angesagt ist: Mit Inbrunst brüllen, schreien und johlen sie ihre Mannen nach vorne, bis die Stimmbänder an Reibeisen erinnern. Die Trommler geben den Takt für diesen schmutzigen Abstiegs-Blues vor. Und die Jungs in Grün-Weiß gehen diesen Takt mit.
»Eindrucksvoll«
Es wird gekämpft wie schon lange nicht mehr auf der mittelhessischen Platte. Jeder abgefangene Pass wird bejubelt, als wäre Olympia-Gold in greifbarer Nähe. Zuschauer und Spieler bilden in dieser Halbzeit eine verschworene Gemeinschaft. »In den ersten 30 Minuten hat man eindrucksvoll gesehen, wie Wetzlar auch mit einer imponierenden Körpersprache aufgetreten ist und gekämpft hat«, staunt später auch Gästecoach Jamal Naj.
Vor allem Rechtsaußen Domen Novak hat sein Kämpferherz entdeckt. Der Slowene wirft sich tatsächlich hinten in jeden Ball, als wäre er der Braveheart von Mittelhessen. Und vorne holt sich der Rechtsaußen die Kugel ein ums andere Mal im Rückraum ab, um dann sogar selbst in die Lücken der BHC-Abwehr zu stoßen. »Wir sind wirklich gut gestartet«, sagt er nach der Partie, »Schade, dass wir uns keine Führung erspielen konnten.« Und ja: Diese erste Hälfte ist gut. Zumindest kämpferisch. Zumindest von der Moral her. Denn spielerisch lassen beide Teams so viele Wünsche offen wie die eines langjährigen Lotto-Versagers.
Nach dem schnellen 0:2 stöhnt und ächzt die Arena kollektiv. Nach der ersten HSG-Führung, die natürlich Novak per Siebenmeter erzielt (10:00), wird gejubelt, als gäbe es keinen arbeitsreichen Montagmorgen danach. 9:7 führt Wetzlar durch den verbesserten Kreisläufer Erik Schmidt (18:00). 11:9 durch den verspätet gestarteten Stefan Cavor (22:00). Um dann doch nach völlig missglückten Offensivaktionen mit 11:12 durch Perssons Wurf ins leere Tor in Rückstand (25:50) zu geraten.
Doch mit Kampf geht zwar nicht alles, aber vieles in diesem ersten Abschnitt, den Emil Mellegard mit dem 13:13-Ausgleich abschließt. Doch deutlich ist auch geworden: Der Rückraum mit dem am Wurfarm lädierten Lenny Rubin und Stefan Cavor lahmt weitgehend. Hendrik Wagner klebt das Wurfpech wie mit Pattex versetzter Harz an den Händen. Alleine Spielmacher Magnus Fredriksen sucht mit größtem Einsatz alle nur auffindbaren Abwehrlücken.
Und so geht es weiter. Viel Kampf, viel Krampf, viel Hoffnung: Erneut ist es Novak, der nach 40 Minuten zum 18:18 ausgleicht. Danach bringt der quirlige Nationalspieler Lukas Stutzke die Gäste mit 19:18 in Führung. Danach hat die HSG gar doppelte Überzahl. Danach bebt die Arene noch lauter. Danach geht binnen Minuten das komplette Spiel in die Binsen. Und zwar derart bitter und traurig in die Binsen, dass 4121 Zuschauer fast schon kollektiv mit den Köpfen schütteln.
Fatales Foul
Zunächst verdaddelt bei der 6:4-Überzahl Jonas Schelker den Ball durch ein völlig überflüssiges Offensivfoul. Dann erhöht Beyer von Außen auf 20:18. Schließlich macht Persson mit einem Doppelschlag zum 22:18 den bösen Zahnklempner. Denn damit ist den Wetzlarern komplett jeder, aber auch jeder Zahn gezogen. Die Körpersprache ist weg. Die Köpfe sinken. Die Arme bleiben unten. Hier geht nichts bis überhaupt nichts mehr. Die HSG ist jetzt nur noch bedingt abwehrbereit. Zudem unbedingt schlecht angriffsbereit. Der BHC kommt zu einfachen Treffern. »Wir haben dann im Angriff gute Lösungen gefunden«, erklärt Stutzke.
Gute Lösungen des Gegners sind halt schlechte Lösungen der eigenen Defensive. Und selbst als der sichtlich angeschlagene Rubin beim 21:24 (51:50) einen kleinen Hoffnungsfunken zündet, geht dieser nicht als Funken auf die Ränge über. Dort ist das Feuer schon länger weg, weil ein ums andere Mal technische Fehler den grün-weißenAngriff so lahm legen wie einen Bundeswehrpanzer.
Und am Ende herrscht nach dem 22:28 Schweigen auf den Rängen. Schweigen und Pfeifen. Trainer Hrvoje Horvat sitzt eine Stunde nach dem Abpfiff auf der Pressekonferenz und ist sichtlich frustiert. »Schade«, sagt er, »dass wir die tolle Atmosphäre in der ersten Halbzeit nicht besser genutzt haben. Am Ende war der Sieg des Bergischen HC dann natürlich verdient. Das müssen wir in Stuttgart besser machen.« Stuttgart heißt der nächste Halt auf der wilden Fahrt der HSG quer durch den Abstiegskeller.