Jetzt ist alles möglich

Gießen. Schon Minuten vor der Schlusssirene skandierten die Fans der Gießen 46ers auf der kultigen Stehtribüne seinen Namen, worauf sich auch die Anhänger auf den besseren Plätzen der Osthalle erhoben. Der so sehr Gefeierte fühlte sich geehrt. Und winkte artig in die Menge. »Sie haben mich so besungen, als wäre die Saison schon vorüber«, wunderte sich Enosch Wolf später über die spontane Ehrerbietung.
Wohl wissend, dass der 3:0-Sweep im Playoff-Viertelfinale der 2. Basketball-Bundesliga gegen die Dresden Titans womöglich nur der dritte von fünf möglichen Steps der Spielzeit 2022/23 war.
Denn: Die Playoffs sind erreicht, der Einzug in den nationalen Pokal ist geschafft, die erste K.o.-Runde ist überstanden. Nun also steht das Halbfinale ab kommenden Freitag gegen Hauptrunden-Gewinner Rasta Vechta ohne den Big Man an. Was nicht heißen muss, dass die 46ers auf der Strecke bleiben, nur weil der 2,15-Meter-Hüne gegen jenen Verein, den er im Winter verließ, um an der Lahn sein Glück zu versuchen, nicht spielberechtigt ist.
»Auch ohne mich haben wir eine reelle Chance, ins Finale einzuziehen«, wusste der 32-Jährige, dessen Eltern Inken und Horst am Mittwoch extra aus Göttingen angereist waren, um den Sohnemann spielen zu sehen, nur zu gut, dass seine Jungs in ihrer derzeit blendenden Verfassung jeden Kontrahenten aus dem Weg räumen können. Und damit auch Schritt fünf, nämlich den Sieg im Finale, realisieren können.
»Für die 46ers ist alles drin«, wusste auch Fabian Strauß, dass Gießen bei der Titelvergabe zu beachten ist. Nach dem 94:96 am Freitag und dem 72:89 am Sonntag an der Elbe hatten die von ihm gecoachten Dresden Titans am Mittwochabend in der »Best-of-five«-Serie beim am Ende für sie noch schmeichelhaften 76:89 (32:46) keine Chance. Durch das 3:0 steht der fünffache Deutsche Meister in der Vorschlussrunde, für den Aufsteiger indes ist eine Saison, die Hausherren-Übungsleiter »Frenki« Ignjatovic als »beeindruckend« bezeichnete, aber zu Ende. Die 46ers jedoch, die Vechta schon Ende April mit 86:77 aus der Osthalle räumten, freuen sich auf zusätzliche Partien und zusätzliche Einnahmen, die sie so dringend benötigen.
Dass Center Wolf in diesen nicht auflaufen darf, sorgt schon seit Wochen bei den Anhängern für Diskussionen, denen die Verantwortlichen jedoch die Luft aus den Segeln nahmen. »Wir fühlen uns moralisch verpflichtet, diese Abmachung auch einzuhalten. So etwas würden wir von jedem anderen Team auch erwarten«, beendete Ignjatovic alle Spekulationen, ob sein vorgestern abermals erfolgreichster Mann gegen jenen Club, der ihn in der Vorrunde zu einem Bankangestellten degradierte, auflaufen könnte. »Ich glaube zwar, dass eine solche Klausel nicht gerichtsfest wäre, wir wollen aber nichts riskieren.«
Die in der Halle kolportierte Strafe von (nur) 500 Euro, die fällig wäre, falls Wolf gegen Vechta doch spielen sollte, verwies 46ers-Geschäftsführer Jonathan Kollmar ins Reich der Fabel, ohne konkrete Zahlen nennen zu wollen. »Die Summe, die wir aufgebrummt bekämen, wäre um ein Vielfaches höher.« Punkt! Aus! Ende der Debatten!
Enosch Wolf jedenfalls, der am Mittwoch mit einem Double-Double aus 18 Punkten und zehn Rebounds glänzte, wird in den kommenden Tagen weiter mit den 46ers trainieren, »wenn auch reduziert, da ich ja nicht in die Setups, die sie einstudieren müssen, reinpasse.«
Ab Juni wird der gebürtige Ludwigsburger dann seine Karriere beenden und ins Berufsleben einsteigen. »Bis dahin würde ich aber gerne noch zwei Partien für Gießen bestreiten«, hält es der Center nicht für ausgeschlossen, dass die in der Crunchtime der Saison bärenstarken 46ers auch Rasta Vechta schlagen können.
»Der Finaleinzug wäre natürlich die Krone auf einer ohnehin starken Runde«, möchte auch »Frenki« Ignjatovic nichts von einer Außenseiterrolle der Seinen wissen. Zu stark war das Saisonfinale mit Erfolgen gegen Rasta Vechta und die Tigers Tübingen, zu beeindruckend präsentierten sich seine Männer im Viertelfinale gegen Dresden, zu klar war der abschließende Erfolg, der am Ende bei 13 Punkten Differenz viel zu mager ausfiel.
Schon Mitte des dritten Abschnitts, als der endlich wieder einmal effektive Luis Figge einen auf dem Ring kullernden Wurf von Justin Martin per Tip-In zum 63:40 verwertete, war eine Partie gegessen, in der die Sachsen nie den Hauch einer Chance besaßen. Beim 16:5 (4.) nach einem Dreier durch Justin Martin sah sich Fabian Strauß schon zu einer ersten Auszeit genötigt, beim 43:26 durch Jordan Barnes konnte es sich »Frenki« Ignjatovic bereits erlauben, seine Reservisten kräftig rotieren zu lassen.
Als Luis Figge per Dunk zum 76:59 (33.) abschloss und Nico Brauner mit einem Dreier das 89:69 (38.) nachlegte, erhörte der Gießener Coach sogar die Rufe der Fans, die lautstark Youngster Till Heyne forderten. 1:38 Minuten durfte der Pointguard dann am Ende noch ran und die obligatorische Humba anstimmen, die sich die 46ers auf dem Boden vor den Fans sitzend auch redlich verdient hatten.
Weil sie mit Justin Martin und Luis Figge zwei zuletzt formschwache Akteure in ihren Reihen hatten, die dem Match ihren Stempel aufzudrücken wussten. Weil Enosch Wolf gerade unter dem defensiven Brett alles wegfischte. Weil Roland Nyama vor Spielfreude nur so sprudelte. Weil Stefan Fundic acht seiner zehn Punkte bereits nach sechs Minuten erziel hatte. Vor allem aber, weil die Männer aus Elbflorenz sich unter Wert verkauft hatten.
»Wir hatten ihnen am Sonntag in Dresden wohl schon den Zahn gezogen«, war Ignjatovic klar, dass die Titans in Gießen nicht eben ihren besten Abend erwischt hatten. Nur acht versenkte Dreier bei 38 (!) Versuchen, schlimme Wurfquoten ihrer sonst so treffsicheren Grant Teichmann und David Kachelries und nur vier Zähler sowie zwei eingesammelte Abpraller des baumlangen Georg Voigtmann waren viel zu dünn, um Gießen wirklich gefährden zu können.
Was unter dem Strich nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die 46ers ab kommendem Freitag eine Schippe drauflegen müssen. Allemal ohne Enosch Wolf
Gießen: Barnes (16), Heyne, Brauner (5), Wolf (18), Fundic (10), Figge (15), Kahl, Cvorovic (4), Martin (13), Strangmeyer, Nyama (4), Miksic (4).
Dresden: Adams (6), Kirchner (16), Kachelries (2), Teichmann (8), Briesemeister, Schmikale (3), Wendler (2), Zerner (6), Graham (12), Voigtmann (4), Narcis (17), Kupke.
Playoff-Viertelfinale (best of five): Karlsruhe Lions - Artland Dragons 106:81 (Stand 2:1), Gießen 46ers - Dresden Titans 89:76 (Stand 3:0), Rasta Vechta - Phoenix Hagen 95:74 (Stand 3:0), Tigers Tübingen - Eisbären Bremerhaven 103:80 (Stand 2:1). Am Freitag (19.30 Uhr) spielen: Artland Dragons - Karlsruhe Lions, Eisbären Bremerhaven - Tigers Tübingen.
Playoff-Halbfinale (best of five): Rasta Vechta - Gießen 46ers (Freitag, 19. Mai, 19.30 Uhr). Tübingen/Bremerhaven - Karlsruhe/Artland (Donnerstag, 18. Mai, 19.30 Uhr).
Die weiteren Gießener Termine: 46ers - Vechta (Sonntag, 21. Mai, 18 Uhr), Vechta - 46ers (Mittwoch, 24. Mai, 19.30 Uhr).
