Jung, talentiert und mit Adler auf der Brust

Gießen. Seit über 120 Jahren wird in Gießen im Verein Fußball gespielt und die Zahl der Spieler bzw. Spielerinnen, die seitdem für einen heimischen Club auch zu internationalen Ehren gekommen sind, ist durchaus überschaubar. Gut, Ernst Lippert stand in den 1930er Jahren einige Male im Aufgebot der Nationalmannschaft, Hans-Jürgen Himmelmann war Nationalspieler bei den Amateuren und die spätere Weltmeisterin Nia Künzer bestritt ihre ersten Länderspiele, als sie noch für den VfB 1900 im Verein aktiv war - aber sonst?
Da ist es schon bemerkenswert, dass der Gießener Fußball in den 1960er Jahren innerhalb kurzer Zeit gleich drei Jugend-Nationalspieler hervorgebracht hat, denen - mit einigem zeitlichen Abstand - sogar noch ein vierter folgen sollte.
Der Jugendfußball in Gießen hatte sich bereits seit den späten 1940er Jahren einen durchaus guten Ruf erarbeitet, der sich nicht nur in diversen Meisterschaften und Pokalsiegen auf lokaler Ebene niederschlug, sondern mitunter auch in beachtlichen Resultaten auf der Landesebene. Anfang der 1960er Jahre stand mit Gerhard Kraus vom MTV sogar ein heimischer Akteur in der Süddeutschen Jugendauswahl, in der die besten Nachwuchskräfte der Fußballverbände aus Baden, Württemberg, Südbaden, Bayern und Hessen aufliefen. Aber in die Jugend-Nationalmannschaft berufen zu werden, das war doch noch einmal etwas anderes, eine ganz besondere Auszeichnung und zwar sowohl für den Spieler selbst wie auch für den Verein, dem er angehörte.
»Don Jupp« ausgestochen
Eine Nationalmannschaft für Spieler der A-Jugend unter dem Dach des DFB gab es seit 1953. Ihr jährliches Ziel war die Teilnahme am Jugendturnier der Uefa, das international hohes Ansehen genoss und nicht selten der Ausgangspunkt großer Karrieren war.
Gerfried Krallert vom VfB 1900 war 1963 der erste heimische Jugendfußballer dem dies gelungen ist. Noch heute kann man in alten Presseberichten nachvollziehen, wie sich der Stürmer damals durch Berufungen in die Kreis- und Bezirksauswahl, die Hessenauswahl und die Süddeutsche Jugendauswahl innerhalb weniger Monate in das 16-köpfige Aufgebot von Trainer Dettmar Cramer gespielt hat, dass den DFB beim Jugendturnier in England im April 1963 vertreten sollte. So ist es aus heutiger Sicht erstaunlich, dass der Gießener unter anderem den Vorzug vor Jupp Heynckes erhielt, der damals in der Westdeutschen Jugendauswahl stand. Dreimal trat die Cramer-Elf auf der Insel an. Im letzten und entscheidenden Spiel, in dem es um den Gruppensieg ging, stürmte der Gießener Krallert bei seinem internationalen Debüt am linken Flügel an der Seite eines gewissen Günter Netzer, damals noch in Diensten des 1. FC Mönchengladbach. Zwar gelang im Seebad Brighton ein 2:1-Erfolg über die Schweiz, aber Krallert, Netzer und Co. mussten den Schotten, die das bessere Torverhältnis besaßen, den Vortritt in ihrer Gruppe lassen und schieden aus.
Schon im Jahr darauf schaffte mit Josef Pistauer vom MTV Gießen, der im Vorjahr bereits als Rechtsaußen gemeinsam mit Krallert im Angriff der Süddeutschen Auswahl gespielt hatte, ein weiterer heimischer Jugendfußballer den Sprung in die Nationalelf. Aber auch ihm war beim Uefa-Jugendturnier, gespielt wurde jetzt in den Niederlanden, kein Erfolg vergönnt. Bei seinem einzigen Einsatz stand es am Ende 3:1 für den Gastgeber, das gleichbedeutend mit dem deutschen Turnieraus war. Dafür hatte aber auch Pistauer Mitspieler, die so klangvolle Namen wie Franz Beckenbauer oder Hans-Hubert Vogts trugen.
Als dann im Oktober 1969 erstmals der Name des 17-jährigen Peter Reichel vom VfB 1900 in der Jugend-Nationalmannschaft auftauchte, hatte sich diese nicht nur längst zu einem Sprungbrett in die Bundesliga gemausert, auch die Anzahl ihrer jährlichen Spiele war merklich angestiegen. Und so kam es, dass der Gießener, der als rechter Außenverteidiger schon bald gesetzt war, innerhalb von nur acht Monaten zehn Länderspiele absolvierte, während es bei Krallert und Pistauer wenige Jahre zuvor noch bei jeweils einem einzigen geblieben war.
Obwohl mit Paul Breitner, Uli Hoeneß und Rainer Bonhof gleich drei kommende Weltmeister gemeinsam mit Reichel auf dem Platz standen, war auch ihnen letztlich kein Erfolg beim Turnier des europäischen Nachwuchses beschieden. Siege über Wales und die Schweiz reichten 1970 nämlich nicht, um sich gegen den Gruppensieger aus den Niederlanden zu behaupten.
Der erste Jugend-Finalist
Thomas Romeikat war gut ein Jahrzehnt später schließlich der vierte Gießener Jugend-Nationalspieler, wobei er im Unterscheid zu seinen Vorgängern nicht in einem Gießener Club groß geworden war, sondern aus Cappel kam und sich 1981 der damals sehr erfolgreichen A-Jugend des VfB 1900 angeschlossen hatte. Der körperlich starke Abwehrspieler debütierte international im Oktober 1981 unter Trainer Berti Vogts im Rahmen eines U16-Turniers, das erstmals vom europäischen Fußballverband ausgeschrieben worden war. Romeikat erreichte mit seiner Mannschaft sogar das Finale, dass jedoch knapp mit 0:1 gegen Italien verloren wurde - vielleicht auch, weil der Gießener ausgerechnet in dieser Partie nicht zum Einsatz kam. Insgesamt hat Romeikat, der nach nur einem Jahr in Gießen 1982 in die A-Jugend von Bayer Leverkusen wechselte, acht Jugendländerspiele absolviert, davon sechs während seiner VfB-Zeit.
Die weiteren Karrieren der Gießener Nationalspieler verliefen dann recht unterschiedlich. Während Gerfried Krallert dem heimischen Fußball treu blieb und etwa für den VfB 1900 und Eintracht Wetzlar in der Hessenliga spielte, wechselte Josef Pistauer aus der Jugend direkt in den Vertragsfußball und wäre bei Holstein Kiel als Meister der Regionalliga Nord sogar fast in die Bundesliga aufgestiegen, musste jedoch letztlich der Borussia aus Mönchengladbach den Vortritt lassen. Nach drei weiteren Jahren in Kiel und einem Engagement bei Hessen Kassel kehrte er jedoch zurück in heimische Gefilde und schnürte seine Schuhe nun unter anderem für den VfB 1900 im hessischen Oberhaus.
Der Weg von Peter Reichel führte hingegen vom Waldsportplatz direkt in die Bundesliga, wo er von 1970 bis 1978 für die Frankfurter Eintracht spielte, zweimal den DFB-Pokal gewann, A-Nationalspieler wurde, quasi nebenbei ein Lehramtsstudium bestritt und nach dessen Abschluss seine Profikarriere mit noch nicht einmal 27 Jahren beendete. Fußball spielte er nun nur noch in der Amateurelf der Frankfurter.
Für Thomas Romeikat dürften sich die Hoffnungen, die er mit seinem Wechsel zu Bayer Leverkusen verbunden hat, hingegen nicht erfüllt haben, denn der Sprung in die Bundesliga ist ihm nicht gelungen. So blieben Einsätze im Bayer-Nachwuchsteam, einige Zweitligaspiele für Rot-Weiß Oberhausen und schließlich der Weg zurück ins Amateurlager.
Mittlerweile gibt es beim DFB, angefangen von einem U15-Team, eine Vielzahl von Jugend-Nationalmannschaften, die - nach Jahrgängen gestaffelt - Jahr für Jahr eine stattliche Anzahl internationaler Begegnungen bestreiten. So ist es auch nicht ungewöhnlich, wenn ein junger Spieler, noch bevor er sich überhaupt zum ersten Mal das Trikot einer Seniorenmannschaft überstreift, mitunter schon 20, 30 oder noch mehr Länderspiele absolviert hat.
Dass in diesem Kreis noch einmal ein Spieler eines Gießener Clubs auftaucht, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Ein solches Talent wäre nämlich schon längst vorher von einem Scout entdeckt worden und bald darauf in das Nachwuchsleistungszentrum irgendeines Proficlubs entschwunden.
So ähnlich geschehen etwa bei Luca Waldschmidt, aktuell in der Bundesliga in Diensten des VfL Wolfsburg, der zunächst bei der TSG Wieseck spielte, aber erst nach seinem Wechsel zu Eintracht Frankfurt auch zum Jugend-Nationalspieler wurde.