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Mit Heidelberg in die Bundesliga aufgestiegent

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Auf dem Rad unter dem Elefantenklo. © Red

Gießen. Wer in Heidelberg gearbeitet hat und vor den Toren Darmstadts wohnt, der darf getrost von sich behaupten, geschichtlich imposante und kulturell wertvolle Ecken zu kennen. Das Schloss gegenüber des Königstuhls, der Kornmarkt, die Heiliggeistkirche, die Alte Brücke oder das Deutsche Apothekenmuseum beeindrucken die Menschen zwischen Pfälzerwald und Odenwald.

Und die Mathildenhöhe, die Orangerie, der Hochzeitsturm, die Russische Kapelle und das Jugendstilbad ziehen Südhessen in ihren Bann. Branislav Ignjatovic, der neue Coach des ebenfalls neuen Basketball-Zweitligisten Gießen 46ers, weiß, wo es sich leben lässt. Gut leben lässt!

Nun also die Universitätsstadt an der Lahn, die in der Nacht auf den 6. Dezember 1944 von der britischen Royal Air Force weitestgehend dem Erdboden gleich gemacht wurde? Und die in den Jahren danach bisweilen durch Bausünden von sich reden machte? Da bedarf es eines Einheimischen, der bei einer Radtour versucht, dem schon seit fast drei Jahrzehnten in Deutschland lebenden Serben die schönen Seiten jenes Ortes, an dem er sich vorstellen kann, eine längere Zeit zu verbringen, näherzubringen. Mit Erfolg - wie sich gut vier Stunden nach dem Start an der Geschäftsstelle in der Grünberger Straße, besser gesagt vor dem Parkhaus am China-Restaurant der Miller Hall, dem ersten von so vielen wenig einladenden Gebäuden, an dem die beiden vorbeiradeln werden, herausstellen soll.

»Ich kenne Gießen schon ganz gut«, behauptet Ignjatovic, als er den von Geschäftsstellen-Mitarbeiterin Jenny Blaha organisierten Drahtesel, mit dem normalerweise Studenten von A nach B hasten, besteigt. Der Sattel passt, der Lenker hält, der 30-Grad-Tag kann - auch dank einer Flasche Wasser aus dem Office - kommen. »Fahren wir schnell? Ich habe keinen Helm dabei ...« gibt »Frenki«, wie der 55-Jährige in der Szene gerufen wird, zu, schon lange nicht mehr Rad gefahren zu sein. Der Reporter kann ihn beruhigen: »Wir fahren gemächlich« und machen nach wenigen Minuten den ersten Stopp am Schwanenteich, an dem der neue Gießener Hoffnungsträger ins Plaudern gerät.

Über den Krieg in Ex-Jugoslawien, über Putin - vor allem aber über »das Paradies Deutschland«, in dem er seit 1992 leben darf. »Ich leide jeden Tag mit den Menschen in der Ukraine. Dass sich zwei Brudervölker bekämpfen, tut mir weh«, weiß »Frenki«, wovon er spricht. Schließlich ist er in einer Zeit nach Deutschland gekommen, in der seine jugoslawische Heimat von mehreren Auseinandersetzungen schwer erschüttert wurde. »Ich kann nur jedem, der in Deutschland unzufrieden ist, sagen: Setz dich ins Flugzeug, schau, wie es woanders ist, vielleicht weißt du dann das Leben in Deutschland wertzuschätzen«, ist der studierte Mann aus der Touristikbranche froh, zusammen mit seiner Frau Gordana und seinem Sohn Djordje (26) in Ober-Ramstadt leben zu dürfen.

Vorbei an der Technischen Hochschule Mittelhessen, dem Gefängnis, in dem rund 130 Spitzbuben einsitzen, sowie dem Amts- und dem Landgericht geht es zum »Hawwer-kasten«, an dem er einen Blick auf die Speisekarte wagt. »Wissicher Pann? Hangelsteiner Pann?« Ignjatovic kramt aus seiner Gürteltasche die Leserbrille hervor, die jedoch auch nicht weiterhilft, um die Geheimnisse mittelhessischer Küche zu entschlüsseln. »Das Beste wird sein, wenn meine Frau und ich mal hierher essen gehen«, ist die Kultkneipe am Alten Schloss nicht das einzige Lokal, das der Basketball-Coach noch auf seiner To-do-Liste stehen hat.

Im »Klein & Fein« am Brandplatz erregt der 55-Jährige Aufsehen, weil er ein Shirt seines neuen Clubs trägt. »Wen hast du denn da mitgebracht?«, will Chef Enzo Laurito wissen. Als er erfährt, dass Branislav Ignjatovic auf Gießen-Tour ist, zieht der kultige Wirt die Spendierhosen an. »Der Latte macchiato geht auf mich ...«

Am Kirchenplatz ist der 46ers-Hoffnungsträger beeindruckt vom Leib’schen Haus und vom Wallenfels’sches Haus, den beiden ältesten und aus dem 12. Jahrhundert stammenden Gebäuden der Stadt. Und in der wenig einladenden Neustadt laufen den Radlern der ehemalige Gießener Profi Alen Pjanic (jetzt EWE Baskets Oldenburg) und sein Freund Viktor Ziring, der zuletzt für die Rackelos aktiv war, über den Weg. »Wie stets um eure Zukunft? Wann beginnt die Vorbereitung? Wie haltet ihr euch fit?« Ignjatovic ist ein Mensch, der auf andere zugeht. Einer, der begeistert. Offen, ehrlich, empathisch. Ob Pjanic und Ziring sich wünschen würden, mal unter ihm zu trainieren? Es bleibt ihr Geheimnis ...

Nicht hinterm Berg hält der Coach, schon leicht geschwitzt nach nur zwei, drei Kilometern, als bei einer Apfelschorle vor dem Bootshaus an der Lahn Hagens Cheftrainer Chris Harris anruft. Die beiden reden über Spieler, tauschen sich über deren Stärken und Schwächen aus - und verabreden am Ende ein Vorbereitungsspiel. »Kommt ihr zu uns oder wir zu euch?«, fragt Ignjatovic. »Am besten, ich bespreche das mal mit unserem Geschäftsführer Sebastian Schmidt.«

Am Mathematikum knallt die Sonne unerbittlich, doch »Frenki« lässt es sich nicht nehmen, etwas über die Geschichte des ersten Mitmach-Museums der Welt und über dessen Gründen Albrecht Beutelspacher zu erfahren. Auch am Liebig-Museum, das sich hinter dem ehemaligen Hauptzollamt ein wenig versteckt, bleibt Ignjatovic stehen. Und erfährt, dass das Justus Liebig gewidmete Gebäude ursprünglich als Wachlokal einer Kaserne errichtet worden war, vom weltberühmten Chemiker dann aber erweitert wurde. Es zeigt die Arbeitsbedingungen und die Hilfsmittel jener Zeit im ehemaligen Chemischen Institut, in dem Liebig während seiner Zeit als Professor an der Gießener Universität von 1824 bis 1852 gelebt und geforscht hat. »Und du sagst, Gießen hätte nicht viel zu bieten?« lacht der 46ers-Übungsleiter in Richtung des Reporters. »Das sehe ich seit heute aber mit ganz anderen Augen.«

Die ihn schon des Öfteren unter dem Elefantenklo hindurchgeführt haben, ohne dass ihm jemals bewusst wurde, dass die aus dem Jahre 1968 stammende Bausünde längst ebenso Kultstatus wie traurige Berühmtheit erlangt hat. In seinem früheren Leben war der Mann, der vor einem Jahr die MLP Academics Heidelberg ins Oberhaus führte, Entsorger von Medikamenten in Apotheken. Und deshalb auch bisweilen in Gießen unterwegs. »Dass die Fußgängerüberführung wegen ihrer drei großen Löcher aber Elefantenklo genannt wird, das war mir nicht bewusst«, lacht Ignjatovic herzerfrischend.

Über die Löber- und die Lonystraße mit ihren prächtigen Altbauten, einem Halt am Uni-Hauptgebäude, das alle rund 28 000 Gießener Studenten irgendwann einmal aufgesucht haben müssen, und einer Stippvisite am Alten Friedhof geht der Ausflug zurück zur Miller-Hall, in deren Obergeschoss die Geschäftsstelle der 46ers untergebracht ist. Dass die ehemalige Volkshalle einst US-Soldaten als Sportstätte diente, wusste Ignjatovic natürlich nicht. »Ich habe gehört, unsere Trainingshalle in den Rivers ist nicht optimal. Warum nutzen wir die Miller Hall nicht?«, kann der 55-Jährige kaum glauben, dass sich heute ein China-Restaurant in dem weitläufigen Areal befindet. »Lass uns reingehen, ich fasse das ja wohl nicht«, ist »Frenki« überrascht. Und bestaunt den noch komplett erhaltenen Parkettboden, auf dem einst die Army ihre Männer ertüchtigte.

Als Jenny Blaha den Drahtesel wieder übernimmt, ist Branislav Ignjatovic groggy. »Ich glaube, ich muss wieder mehr Sport machen.« Vor allem aber muss er in den kommenden Monaten seine Mannschaft ertüchtigen. Denn »Frenki« ist der Gießener Hoffnungsträger schlechthin. Wenn er sich künftig in der Stadt bewegt, werden ihn die Menschen ansprechen. Einen kleinen Vorgeschmack hat er bei der Fahrradtour schon bekommen ...

Branislav »Frenki« Ignjatovic stammt aus Serbiens Hauptstadt Belgrad. Er kam 1992 nach Deutschland und trainierte sieben Jahre lang die TGS Ober-Ramstadt, ehe er den Regionalligisten nach der Saison 2004/05 verließ, um Chefcoach beim Zweitligisten TV Langen zu werden.

2008 nahm er das Angebot der VfL Kirchheim Knights aus der 2. Bundesliga an. In der Saison 2011/12 führte er die »Ritter« zur Vizemeisterschaft in der zweithöchsten deutschen Spielklasse und wurde vom Internetdienst eurobasket.com zum besten Trainer der ProA gekürt.

Nach sechsjähriger Amtszeit wechselte er 2014 zum USC Heidelberg, den er als MLP Academics Heidelberg im vergangenen Sommer sogar bis in die Bundesliga führte und dort auch souverän den Klassenerhalt sicherte.

In der kommenden Saison coacht Ignjatovic, der mit seiner Frau Gordana und Sohn Djordje (26) in Ober-Ramstadt lebt, die Gießen 46ers in der ProA.

(afi)

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»Frenki« Ignjatovic vor dem Uni-Hauptgebäude. © Red

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