»Mit viel Vorfreude« in Restrunde

Gießen . Vor knapp zweieinhalb Monaten hat Fußball-Hessenligist FC Gießen sein letztes Meisterschaftsmatch bestritten. Die überraschende 2:4-Niederlage passte so gar nicht zum bisherigen Gesamtabschneiden. Der FCG feierte Weihnachten als Tabellenzweiter und startet mit dieser hervorragenden Ausgangsposition in die Restrunde. Zeit, um die Lage beim Ex-Regionalligisten näher zu beleuchten.
Die Vorbereitung
Auf sein Resümee angesprochen, überlegt Trainer Daniyel Cimen eine Sekunde und sagt dann: »Sie war ordentlich bis gut.« Der Coach ist einverstanden mit dem Verlauf der sechs Wochen, aber es schimmert durch, dass da noch etwas Luft nach oben war. Ein Gradmesser sollten die beiden Testspiele gegen Ligakonkurrenten sein. Den FC Bayern Alzenau besiegte der FCG mit 4:1, beim TuS Dietkirchen betrieben die Rot-Weißen beim 1:1 Chancenwucher. Überzeugend war der Auftritt beim 0:2 gegen Regionalligist Kickers Offenbach, die Partien gegen klassentiefere Teams wie die SF/BG Marburg (3:0) und RW Frankfurt (2:2) lassen sich schwer beurteilen, ebenso wie das Abschneiden beim Benefizturnier in Hanau, wo zudem der Fußball nur an zweiter Stelle stand. Erkenntnisse ließen sich gleichwohl einige sammeln. »Wir konnten die Schwerpunkte nicht so ganz umsetzen«, räumt Cimen ein und sieht insbesondere »die Restverteidigung und Konterabsicherung« als ausbaufähig an: »Da haben wir noch einiges an Arbeit vor uns.« Es bedarf keiner Glaskugel, um zu prognostizieren, dass die Gießener in den verbleibenden 15 Partien häufig dazu gezwungen sein werden. das Spiel zu gestalten. Dabei in Tempogegenstöße zu laufen, sollte tunlichst vermieden werden. Cimen blickt aber auch positiv zurück und damit voraus. »Mit den Trainingseinheiten bin ich sehr zufrieden. Nach vorne habe ich viele gute Dinge gesehen«, erarbeitet sich sein Team viele Einschussmöglichkeiten, die im Punktspielbetrieb allerdings noch konsequenter genutzt werden müssen als in den Testspielen.
Der Kader
In der Wintertransferperiode tut sich weniger als im Sommer. Das war beim FC Gießen nicht anders und nach dem Radikalumbruch in Folge des Regionalliga-Abstiegs gewiss auch eine Wohltat, um den Kader in Ruhe weiterentwickeln zu können. Angreifer Aykut Öztürk, der seine Karriere verletzungsbedingt beenden musste, wird als Typ fehlen, auf dem Rasen allerdings spielte er im ersten erfolgreichen Saisonteil schon keine Rolle mehr. Mit Leonid Akulin und Michael Gorbunow, den beiden Hünen, ist der FCG im Sturmzentrum sehr gut aufgestellt. Den zweiten Winterabgang, Francesco Calabrese (zum Verbandsligisten SC Hanau), vermisst Cimen aufgrund dessen »Vielseitigkeit«. Der 26-Jährige mit höherklassiger Erfahrung ist auf außen defensiv wie offensiv flexibel einsetzbar, aber auch als er krankheits- und verletzungsbedingt ab Oktober kaum mehr zur Verfügung stand, fuhr Gießen aus 12 Matches 27 Zähler ein. »Die Integration der Neuzugänge ist gut gelungen. Man hat nicht das Gefühl, dass sie weitere Zeit benötigen, um anzukommen«, sagt Coach Cimen zur Verpflichtung von Junghyun Kim (zuletzt Vatanspor Aschaffenburg, Landesliga Bayern), Ayman Lhadaf (Siegburger SV, Mittelrheinliga/Oberliga) und Julian Lang (NLZ SC Paderborn). Insbesondere der 24-Jährige Südkoreaner kann als Herausforderer für einen Stammplatz auf der offensiven Flügelposition betrachtet werden, Lhadaf ist eine Alternative für die Außenverteidigerposten. Offensivmann Lang, der noch A-Jugend spielen kann, bezeichnet Daniyel Cimen als »Perspektivspieler«. Unter dem Strich wird es in der Restrunde auf die Spieler ankommen, die den Club auf Rang zwei gebracht haben. Und da ist der FCG im Offensivbereich breiter aufgestellt als in der Defensive. Vor dem Torhüter, der vermutlich Daniel Duschner und nicht Elfmeter-Killer Aleksa Lapcic heißen wird, steht die Viererkette mit Aryan Assar, Routinier Michael Fink, Adrian Kireski und Kapitän Wessam Abdel-Ghani. Viel darf dort ausfalltechnisch nicht passieren. Erwischt hat es schon beim jüngsten Turnier in Hanau Innenverteidiger Pietro Besso, der sich eine Knieverletzung zugezogen hat. Die sich allerdings als doch nicht so schwerwiegend herausstellte, sieben bis zehn Tage Pause lautet die Prognose. Zahlreiche Optionen haben die Gießener derweil im Mittelfeld und Angriff mit unter anderem Deniz Vural, Denis Mangafic, Keanu Hagley, Matheus Beal, Connor Filsinger, Mert Pekesen, Yassine Maingad und den besagten Kim, Gorbunow und Akulinin. »Wir werden vorne Lösungen finden müssen und können variieren, das wird ein wichtiger Faktor«, weiß Trainer Cimen, dass nicht wenige Gegner Beton anrühren werden, um seine Truppe zu bremsen. Im Aufbau befindet sich nach auskuriertem Kreuzbandriss Ryan Harder.
Die Aussichten
»Wir gehen das total positiv und mit viel Vorfreude an«, sagt Daniyel Cimen: »Wir wollen das Maximum aus uns herausholen, und dann schauen wir mal, wozu das reicht.« Der Rückstand auf die U21 der Frankfurter Eintracht beträgt lediglich drei Zähler, der FCG ist also in Schlagdistanz zum Tabellenführer. Dennoch ist die Eintracht deutlicher in der Favoritenrolle, als es der dünne Vorsprung ausweist. Die professionellen Bedingungen, der zu erwartende Lernzuwachs bei den Talenten, das schier unerschöpfliche Reservoir aus der eigenen U19, die nun nach dem Ausscheiden aus der Uefa-Youth-League eine Belastung weniger hat, um jederzeit personell nachlegen zu können: all das spricht für den Bundesliga-Nachwuchs. Gießen kann womöglich ein Wörtchen bei der Titelvergabe mitsprechen, wenn es an die lange Phase zwischen Ende August und Anfang Dezember anknüpfen kann, als man satte 17 Spiele am Stück ungeschlagen geblieben war. Einiges dürfte davon abhängen, wie das direkte Duell mit der Eintracht, das schon am 4. März auf dem Programm steht, enden wird. In jedem Fall realistisch ist, dass Cimens Mannschaft Rang zwei behaupten kann. Erster Verfolger ist Türk Gücü Friedberg mit vier Punkten Abstand, zum Nachbarn FSV Fernwald klafft bereits eine Lücke von sieben Punkten. Die Wetterauer wie auch der Rivale aus dem eigenen Landkreis sind keine klassischen Anwärter für den Sprung in die Regionalliga, die die Schnittstelle zum Profifußball darstellt. Das Polster zu halten, ist dem FC Gießen zuzutrauen. Rang zwei würde die Teilnahme an der Aufstiegsrelegation bedeuten, aber wie sind die Zeichen von Notvorstand Turgay Schmidt dazu? Würde der Club den Schritt zurück überhaupt schon wagen wollen angesichts der damit verbundenen Auflagen und (wirtschaftlichen) Herausforderungen? Das sei offen, antwortet Trainer Cimen, »die Signale sind aber im Moment positiv.« Wobei Geschäftsführer Michèl Magel gerne ein attraktives Aufstiegsspiel mitnehmen würde, um daraus noch einmal Einnahmen zu generieren. Für die Mannschaft sei diese Frage jedoch im Moment noch nicht von großer Bedeutung, schließlich werde der Aufstieg nicht im Februar oder März entschieden. Und eins ist für Cimen und sein Team ohnehin klar: »Wenn du da oben stehst, willst du da so lange wie möglich bleiben.«
Die Zukunft
Bis Ende Februar, so war das Ziel Daniyel Cimens, solle der eine oder Spieler für die kommende Saison feststehen. Gut möglich, dass der 38-Jährige seinen weiteren Verbleib über den 30. Juni hinaus auch daran knüpft, dass er endlich einmal einen gewissen Stamm in eine neue Runde mitnehmen kann. Grundsätzlich klingt bei Cimen Zuversicht durch, was die Ausdehnung seines Engagements anbelangt. Bislang hat der Club allerdings niemanden für die Spielzeit 2023/24 bestätigt. »Es sind schon Gespräche geführt worden, das Feedback ist positiv«, ist Cimen dazu selbstverständlich im Kontakt mit den Spielern. Es hakt daran, dass der neue Sportliche Leiter Giovanni Fallacara zwar von Magel bestätigt worden ist, er aber erst unlängst nach seiner Tätigkeit als Abteilungsleiter auch jene im Förderverein des FC Hanau 93 beendet hat. Und sich erst jetzt mit voller Konzentration daran machen kann, das nächste Jahr zu planen.
Das Auftaktspiel
Der Rangzweite gastiert beim Vorletzten, das Hinspiel im Dezember war mit einem 6:1 eine glatte Angelegenheit: Die Gießener werden fraglos favorisiert in die 90 Minuten beim SV Neuhof gehen (Sonntag, Anstoß 14.30 Uhr). Der FCG sei bislang der stärkste Gegner gewesen, bekundet Neuhofs Trainer Alexander Bär großen Respekt vor der Cimen-Elf und schiebt nach: »Sie haben den Regionalliga tauglichsten Eindruck hinterlassen.« In seinem letzten Test unterlag der SVN Verbandsliga-Spitzenreiter Hünfeld mit 1:3. »Wenn wir so spielen, wird es schwer«, fordert Bär eine klare Steigerung. Bange ist ihm dabei nicht, in den »Osthessen News« tippt er auf einen 1:0-Sieg.
Wobei das Match auf dem Rasenplatz auf der Kippe steht, Nässe und Kälte setzen ihm zu. Sollte gespielt werden können, dürften die dürftigen Untergrundbedingungen einen Vorteil für den SV Neuhof darstellen. Beim FCG werden Gärtner, Toprak, Harder und Besso ausfallen.