1. Startseite
  2. Sport
  3. Lokalsport

Nie war eine Niederlage schöner

Erstellt: Aktualisiert:

gispor_2605_BB_270523_4c
Chancenlos beim Duell Klein gegen Groß: Vechtas Tajuan Agee und Joel Aminu lassen den Gießener Jordan Barnes (rechts) erst spät zur Entfaltung kommen. Foto: Schepp © Schepp

Gießen. Als schon lange alles verloren ist, als die Gießen 46ers chancenlos gegen den großen Favoriten Rasta Vechta zurückliegen. Als diese Saison in ihr letztes Viertel geht im vierten und schließlich letzten Playoff-Halbfinale der ProA, da folgen die ganz großen Momente in der Osthalle. Die großen Momente, als die Fans nur noch singen. »Meine Liebe gehört dem MTV«, schallt es aus fast 3000 Kehlen.

Minute für Minute. Einfach pausenlos. Und als die 87:112-Niederlage feststeht, da gehen die Gesänge weiter.

Gießen 46ers - Rasta Vechta 87:112

Jeder einzelne Spieler dieser so wackeren 46ers-Basketballer wird besungen. Und natürlich auch Trainer Frenki Ignjatovic erhält seine Strophen. »Ohne Frenki wären wir nicht hier«, intoniert nicht nur die Stehtribüne, sondern auch so ziemlich alle Sitzplatzinhaber stimmen in diesen bewegenden Chor ein. »Das«, sagt wenig später der Held der Lieder auf der Pressekonferenz, »ist überwältigend.« Überwältigend selbst für diesen so erfahrenen Basketball-Fahrensmann, der sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischt, ehe er weiterspricht: »Diese Fans sind einzigartig in Deutschland.«

Und da zuvor auch die gut 100 Anhänger aus Niedersachsen, die den Weg nach Mittelhessen angetreten haben, mit ihrer Mannschaft ausgelassen den Bundesliga-Aufstieg feiern, wird die Osthalle an diesem einen Abend nicht zur Osthölle, sondern eher zu einer Art Basketball-Himmel, in dem sich alle glückselig in die Arme fallen.

Doch so ganz glückselig ist dann selbst der so angefasste Ignjatovic nicht. »Im ersten Moment ist die Enttäuschung natürlich groß.« Schließlich hatte sich der so ehrgeizige Serbe mit seinen Mannen vorgenommen, den großen Favoriten noch in ein fünftes entscheidendes Spiel zu zwingen. Doch davon sind die 46ers diesmal so weit entfernt wie der FC Bayern derzeit von einer glücklichen und erfolgreichen Einheit.

Doch zum Spiel, in dem Gießen nur selten an einen Erfolg glauben darf. So schreitet Luis Figge nach 15 gespielten Minuten von der Auszeit zurück aufs Feld. Der große Kämpfer klopft sich auf die Brust und feuert sich lautstark selbst an. Wie ein einsamer Rufer in der Wildnis. In der spielerischen Wildnis zu diesem Zeitpunkt. Denn da stehen die 46ers bereits vor dem Abgrund. Vor dem Abgrund, der alle Träume vom Bundesliga-Aufstieg in die Tiefe zu reißen droht. 45:26 führt in diesem Moment Rasta Vechta. Nichts, aber auch gar nichts deutet daraufhin, dass die 46ers hier noch einmal zurück auf den Erfolgsweg finden können. Vor der Saisonrekordkulisse von 3289 Zuschauern dominiert der Favorit von der ersten Sekunde an. Immer wieder streuen die Gäste sichere Drei-Punkte-Würfe ein, unter den Körben dominieren sie aufgrund der Gießener Ausfälle von Stefan Fundic und Enosch Wolf sowieso nach Belieben und sie lassen sich auch im Gegensatz zum vergangenen Sonntag von der lautstarken Kulisse nicht aus dem klugen Konzept bringen. Bereits im ersten Viertel holen sich die Rastafari durch den alles überragenden Joel-Sadu Aminu und seinen Dreier nach sieben Minuten eine 19:12-Führung. 21:29 heißt es zur Viertelpause. Die Gastgeber versuchen alles, aber vieles, vieles misslingt. Der Mann, bei dem sich bei den 46ers so vieles dreht, scheint im körperlichen Tief. Der Mann, der sonst immer eine Lösung weiß, wenn seine Nebenmänner Probleme haben, ist diesmal nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn was der sonst so sichere Schütze Jordan Barnes auch versucht, seine Dreier finden nicht ins Ziel und seine Pässe ausnahmsweise auch nicht immer die gesuchten Mitspieler. Erst als später alles entschieden ist, kann Barnes nochmals sein Können demonstrieren.

Nächster Verletzter

Figges Brustklopfer nach der Auszeit löst zwar beim großen 46ers-Kämpfer einen Dreier aus zum 37:50. Aber die Gäste haben immer die richtige Antwort. »Man hat heute in jedem Moment einen Klassenunterschied gesehen«, räumt später dann auch der 46ers-Coach ein. So setzt sich Vechta Punkt um Punkt ab. Beim 50:32 durch einen weiteren Dreier von Aminu wird die große Kulisse ruhiger.

Und entsetzt ist die Kulisse gar, als sich wenige Sekunden vor der Pause ausgerechnet mit Igor Cvorovic noch der letzte 46ers-Hoffnungsträger unter den Körben so schwer verletzt, dass er mit Verdacht auf Gehirnerschütterung auf der Bahre aus der Halle getragen werden muss. Ja, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber die Hoffnung in der Halbzeit auf einen weiteren Husarenstreich der Gießener ist so gering wie der Alkoholgehalt in einer bierähnlichen Plörre aus den USA.

Und nach dem Wiederanpfiff macht Vechta auch ganz schnell klar Schiff. Tajuan Agee per Dunking und Dreier stellt auf 71:47. Und immer wieder Ryan Schwiegers Treffsicherheit besorgen schnell die 30-Punkte-Führung, die sich die Rasta-Männer natürlich nicht mehr nehmen lassen. Während die Gießener Anhänger schließlich zu ihrem ganz, ganz bewegenden Chor auf die eigenen Lieblinge ansetzen, steht nach dem Schlusspfiff Ry Harrelson mit ausgebreiteten Armen auf dem Feld und jubelt den Gästefans zu. Der Trainer hat Vechta in seinem ersten Arbeitsjahr zurück in die Bundesliga geführt. »Es war eine schwierige Serie gegen eine starke Gießener Mannschaft«, sagt er später. Und erhält dann die Glückwünsche seines Gegenübers.

»Die Quote, die Vechta heute hatte, war überragend. Da macht es auch gar keinen Sinn über unsere Ausfälle zu reden«, wollte Ignjatovic auch gar nicht erst nach Ausreden wegen fehlender Leistungsträger suchen. Der Trainer machte vielmehr ein Versprechen an die Fans: »Wir müssen morgen anfangen zu arbeiten, wenn wir wieder solche Spiele erleben wollen.«

Spiele, die alle Basketball-Fans in Mittelhessen bewegen. Spiele wie dieses ganz besondere an diesem Freitagabend, den das Publikum mit einem nicht enden wollenden »Ihr seid alle Gießener Jungs« gen Mannschaft ausklingen lässt.

Gießen 46ers: Jordan Barnes (24 Punkte), Till Heyne, Nico Brauner (20), Finn Döntgens (2), Luis Figge (10), Igor Cvorovic (10), Justin Martin (11), Kevin Strangmeyer (3), Roland Nyama (5), Karlo Miksic (2), Luca Finn Kahl

Rasta Vechta: Kaya Bayram (4), Andrew Jones (11), Joschka Ferner (3), J.J. Culver (3), Robin Lodders (5), Tajuan Agee (16), Ryan Schwieger (15), Johann Grünloh (2), Kevin Smit (5), Joel-Sadu Aminu (34), Alexander Flanigan (2), Deonte Bohannon (12)

Auch interessant