1. Startseite
  2. Sport
  3. Lokalsport

Nochmal die Dreadlocks stutzen

Erstellt: Aktualisiert:

gispor_2305_bb_240523_4c
Seinem großen Auftritt in der Osthalle soll heute ein weiteres Highlight folgen: Kevin Strangmayer tritt mit den 46ers in Vechta an. Foto: Schepp © Schepp

Gießen. Wer von Gießen nach Vechta fährt, benötigt laut Routenplaner für die 333 Kilometer angeblich exakt vier Stunden und neun Minuten. Mögliche Pinkelpausen, Zwischenhalte für ein Pausenbrot oder einen Halt an der Autobahnraststätte, um leicht überteuertes Dosenbier zu kaufen, eingerechnet, sollte der reisewillige Mittelhesse also um die fünf Stunden für die Fahrt nach Niedersachsen einkalkulieren.

Die Strecke lässt sich über die A45 bewältigen, was wiederum einen mittelschweren Marathon an unzähligen Baustellen wegen diverser maroder Brücken mit sich bringt. Dafür fährt man an der kommenden deutschen Fußball-Meister-Stadt Dortmund und am Radler-Eldorado Münster vorbei, wo sich der Gießener Anschauungsunterricht für ein gelungenes Radweg-Konzept holen kann. Aber natürlich lässt sich der Weg nach Vechta auch über die A5 an Kassel (Vorsicht: In dieser Stadt kein EC-Bad-Nauheim-Trikot tragen!) vorbei und über die Stadt, die es niemals gab, also Bielefeld, absolvieren. Doch egal ob marode A45 oder zugestopfte A5 - am Ende erwartet den Ausflugsfreudigen die beschauliche Kreisstadt Vechta mit fast genau 33330 Einwohnern. 333 Kilometer zu 33330 Menschen - das klingt nach einem Faschingszug. Und genau einen solchen wilden, maskierten und sangesfreudigen Umzug planen heute auch zahlreiche heimische Basketball-Fans.

Rasta Vechta - Gießen 46ers (Heute, 19.30 Uhr)

Denen wird es mal so was von egal sein, dass Vechta ein Mittelzentrum und die Kreisstadt des gleichnamigen Kreises ist. Es wird ihnen komplett schnurz sein, dass dieses Provinznest mit Damme, Diepholz und Lohne ein Städtequartett bildet. Und es wird dieser großen Schar von Gießen 46ers-Fans auch total latte sein, dass Vechta über eine 900-jährige Gefängnistradition verfügt. Also hoffentlich wird das den Mittelhessen total latte sein, denn schlechtes Benehmen könnte sich am Rande des Großen Moors durchaus mit einem Aufenthalt hinter Gittern rächen.

All diese wichtigen Reisedetails werden auch Branislav Ignjatovic und seine Basketballer nicht jucken, wenn sie heute Morgen gen Vechta aufbrechen. Ob über die A45 oder die A5 weiß man noch nicht. Doch die fünf Stunden Fahrt werden die erfolgreichen Spieler und ihr Trainer nutzen, um sich nochmal so richtig auf das dritte Spiel der Halbfinal-Serie der ProA zu konzentrieren. »Zum Glück«, sagt 46ers-Trainer Ignjatovic, »können wir in einem großen Bus fahren und nicht wie bislang in dieser Saison in mehreren Kleinbussen, was wir aus finanziellen Gründen gemacht haben. Im großen Bus können die Spieler auch mal die Beine lang machen und sich besser entspannen.« Und lange Beine und größtmögliche Entspannung werden auch nötig sein, um heute Abend (19.30 Uhr/live auf Sportdeutschland-TV) im Rasta-Dom zu bestehen. Nach dem famosen 79:76-Heimerfolg am Sonntag steht es 1:1 in der Serie. Der große Favorit von neben dem Großen Moor ist mindestens gewarnt vorm Außenseiter, möglicherweise auch beeindruckt von der ungeheuren mentalen Stärke und Kampfkraft der Gießener und ganz vielleicht sogar ein bisschen geschockt. Hatte doch alle Basketball-Welt mit einem 3:0-Durchmarsch des Aufstiegsanwärters gerechnet. Doch wer so gerechnet hat, hat sich eben verrechnet und die Rechnung ohne den großen Wirt der wilden 46ers-Kneipe gemacht. Ignjatovic hält überhaupt nichts von Voraussagen, Favoritenrollen und Berechnungen in der entscheidenden Phase der Saison. »Die Playoffs«, weiß der alte Trainerfuchs, »sind ein ganz anderer Wettbewerb.« Da zählen irgendwelche Meriten beim Hauptrundenmeister ebenso wenig wie ein ungeheuer breit aufgestellter Kader. Hier zählt nur eins: »Ich sage immer, jetzt zählt nur noch die Energie, die eine Mannschaft hat.« Die Energie, die sich aus Leidenschaft, Kampfgeist, Moral und Zuversicht zusammensetzt. Und davon hat Gießen soviel wie Vechta anscheinend sumpfige Tümpel im Großen Moor.

»Wir wissen um unsere Defizite«, weißt Ignjatovic nochmals darauf hin, dass mit Stefan Fundic und Enosch Wolf die großen Kerls unter den Körben fehlen, ist sich aber ganz sicher: »Mit der richtigen Einstellung können wir auch in Vechta bestehen.« Und vielleicht nicht nur bestehen, sondern sogar die nächste Riesenüberraschung feiern. Noch haben die Rastafari kein einziges Heimspiel in dieser Saison ins sumpfige Moor gesetzt. Noch ist ihre Heimbilanz makellos. Noch. Um diese Bilanz endlich mal zu ramponieren, müssen bei den Gästen natürlich wieder alle verbliebenen Spieler ihre Bestleistungen aufs Parkett zaubern. Jordan Barnes, Nico Brauner und Justin Martin müssen ihre Dreier versenken. Luis Figge wieder schuften wie ein noch wilder gewordener Berseker. Und Igor Cvorovic seine ganze Coolness im Rasta-Hexenkessel ausstrahlen. Dann könnte es mit der Führung in der Halbfinal-Serie klappen.

Dann könnte sich der Außenseiter gar den Matchball für die Freitags-Heimpartie (19.30 Uhr) in der Osthalle, die zuletzt für Vechta zur Osthölle mutierte, erarbeiten. Dazu braucht es Energie, Einstellung und Mut. Und natürlich auch die Unterstützung der Fans. Von denen heute gewiss viele den Weg zum Großen Moor antreten. Doch Vorsicht: Wer die 333 Kilometer heute mit dem 49-Euro-Ticket per Bahn zurücklegen will, hat ein Problem. Für die Strecke benötigt man 6 Stunden, 28 Minuten, muss viermal umsteigen und dabei sind geänderte Wagenreihungen, fiese Triebwerksstörungen und unangenehm defekte Zugtoiletten nicht mal eingerechnet. Immerhin hat der Bahnreisende dann eine satte halbe Stunde Aufenthalt im reizenden Altenbeken, was kein Mensch kennt und vielleicht nicht mal reizend ist.

Aber all diese Widrigkeiten, all die Baustellen an der A45, die Staus an der A5 und selbst das große Moor mit seiner langen Gefängnistradition werden erstens die Fans heute nicht davon abhalten, gen Vechta zu strömen. Und zweitens sollen sie die verschworene Mannschaft der 46ers noch viel weniger daran hindern, den Rasta-Männer zum zweiten Mal die verstrubbelten Dreadlocks zu stutzen.

Auch interessant