»Traurige Offenbarung«

Gießen . Ehemalige Fußballerinnen von Eintracht Lollar werfen dem Vorsitzenden Markus Müll-Hennig vor, die Entwicklungen der vergangenen Monate, die im Rückzug der Hessenliga-Mannschaft gipfelten, völlig verdreht darzustellen, um von der Verantwortung des Vereins abzulenken. In einer Erklärung, die 22 Spielerinnen der vorigen Saison unterzeichnet haben, fahren sie schweres Geschütz auf.
Das Statement liegt der Redaktion vor.
Auf der Suche nach einer Erklärung für das plötzliche Aus des Frauenfußballs bei Eintracht Lollar hatte Müll-Hennig sein Unverständnis über die Entscheidung der Spielerinnen geäußert, den Verein und die Hessenligamannschaft zu verlassen und teils zum Gruppenligisten FC Gießen zu wechseln. »Ohne Erklärung und Ankündigung waren plötzlich alle weg«, sagte der Vorsitzende und beklagte einen »bitteren Beigeschmack«. Darüber zeigen sich die Spielerinnen verwundert.
»Jahrelang war der Frauenfußball bei Lollar ein Selbstläufer und die Hessenligamannschaft ein Aushängeschild des Vereins«, heißt es in der Erklärung. »Der Erhalt der Mannschaft basierte nicht nur auf sportlicher Basis. Für Außenstehende konnte der Eindruck entstehen, eine fortschrittliche Frauenförderung des Vereins wäre maßgeblich für den jahrelangen Erfolg. Dem ist nicht so. Nicht der Verein, sondern die Selbstständigkeit der Mannschaft war der entscheidende Faktor.«
Müll-Hennigs Behauptung, die Kickerinnen hätten bei der Eintracht wie der »liebe Gott in Frankreich« gelebt, weisen die Spielerinnen zurück. Die vom Vorsitzenden gepriesene »eigene Kabine« hätten sie als ungenutzten Material-Abstellkeller vorgefunden. In Eigenregie sei dieser renoviert worden, finanziert aus Mannschaftskasse und Spenden.
Um Sponsoren für den Frauenfußball habe sich der Verein jahrelang nicht gekümmert, da man offensichtlich davon ausging, dass sich die Mühe nicht lohne, schreiben die Spielerinnen. So gingen sie auf eigene Faust los und waren »überrascht von den bereitwilligen Sponsoren und Interesse an Kooperationen.« Die Spieler-Akquise und eine Werbeaktion für eine zweite Mannschaft als Unterbau sei ebenso in Eigenregie erfolgt wie die Öffentlichkeitsarbeit auf Social Media und die Beschaffung der Ausstattung. Daraus den Vorwurf von einem Verein im Verein abzuleiten, sei total daneben. Die Spielerinnen bedauern den Rücktritt des langjährigen Vorsitzenden Norbert Luh in der vorigen Saison, auf dessen Unterstützung sie stets zählen konnten. Mit ihm und weiteren Wechseln im Vorstand sei die stabile Konstante weggebrochen. Der neue Vorstand habe zunächst große Versprechen gemacht. Busreisen und eine lange Liste an eigenen Sponsoren kündigte der frisch eingesetzte Abteilungsleiter Frauen an. Die Sponsorenbetreuung, die die Frauen jahrelang selbst in die Hand nehmen mussten, sollte ihnen endlich abgenommen werden. Doch nach wenigen Wochen trat der Abteilungsleiter Frauen überraschend zurück, setzte sein Engagement bei den Eintracht-Männern aber fort. Gleichzeitig habe der Verein angekündigt, das Fahrtgeld an Leistungsträgerinnen aus Aschaffenburg und Limburg nicht mehr zahlen zu wollen. Falls die Mannschaft Interesse am Verbleib dieser Spielerinnen habe, solle die Finanzierung aus der Mannschaftskasse erfolgen. Man wolle in Zukunft auf Spielerinnen aus dem näheren Umkreis setzen. Damit war das Projekt Hessenliga in Lollar für die Saison 2022/23 zum Scheitern verurteilt.
Schon im vergangenen Jahr verließen einige etablierten Spielerinnen den Verein. Doch dank eines weitreichenden Netzwerks des damaligen Trainers Peter Antschischkin wurden genug Neuzugänge gefunden, um einen Hessenliga-Kader zu stellen. Mit dem Rücktritt Antschischkins zum Ende der Saison habe es niemanden mehr gegeben, der diese Kompensation leisten konnte. Die nun zum FC Gießen gewechselten Spielerinnen beklagen »ein Versagen von Vereinsseite, der sportlichen Leitung und des neuen Trainerstabs«.
Auch Müll-Hennigs Behauptung ohne Erklärung und Ankündigung seien plötzlich alle weg gewesen, wollen die Frauen so nicht stehenlassen. Sie sehen darin eine »traurige Offenbarung« und »fehlendes Interesse« am Frauenteam. Monate vorher habe fast zwei Drittel der ersten Mannschaft angekündigt, den Verein aus diversen Gründen - Umzug, Abschluss des Studiums, Jobwechsel - zu verlassen. Hinzu kamen schwere Verletzungen, die das Karriereende bedeuteten. Gespräche mit den verbliebenen Spielerinnen seien viel zu spät oder gar nicht geführt worden. Nur drei Neuzugänge wurden rekrutiert.
Trotzdem wollten die verbleibenden 15 Spielerinnen weiterhin gerne für Lollar in der Hessenliga auflaufen, lieber als beim FC Gießen in der Gruppenliga. Doch die Gießenerinnen wollten nicht als Frischzellenkur zur Eintracht wechseln, da sie den Aufwand und das Niveau der Hessenliga nicht stemmen können oder wollen. Um weiterhin gemeinsam Fußball zu spielen, schlossen sich einige Lollarerinnen dem FC an. Denn ein Frauenteam hätte es bei der Eintracht mit diesem schmalen Kader in der Hessenliga nicht mehr gegeben.
Stets habe es geheißen, die Frauen seien das Aushängeschild des Vereins. Personen aus dem erweiterten Vorstand hätten jedoch in Spielerkreisen ausgeplaudert, dass die Frauen etwa ein Zehntel des Budgets der Männer zur Verfügung gestellt bekämen. Dabei spielten die Frauen in der Hessenliga, die Männer in der Kreisliga A. Die Zuschauerzahlen beider Mannschaften waren ähnlich. Die Frauenmannschaft fuhr zu Auswärtsspielen in halb Hessen, nicht nur im Kreis. Daher war die ungerechte Budgetaufteilung aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbar.
Als weiteren interessanten Aspekt führen die Frauen in ihrer Erklärung das Trainergehalt an. Der Coach der Kreisliga-A-Mannschaft der Herren habe in der vergangenen Saison mehr als doppelt so viel Gehalt erhalten wie der der Frauen in der Hessenliga. Die Trainerpersonalie der Frauen für die Saison 2022/23 war offenbar an ein knappes Budget gebunden. Dem Spielerrat sei mitgeteilt worden, dass Kandidaten mit zu hohen Gehaltsforderungen schnell ausgeschlossen worden seien.
Die Spielerinnen sehen in der Summe dieser Aspekte den Grund für den Niedergang des Frauenfußballs bei Eintracht Lollar. Sie blicken aber auch über den Tellerrand hinaus. denn Lollar sei kein Einzelfall. Die Probleme seien grundsätzlicher Art. Die Spielerinnen beklagen in ihrer Erklärung die eingefahrenen Strukturen in den Vereinen. Der Männermannschaft werde stets ein höherer Stellenwert eingeräumt. Das werde nicht hinterfragt, weil es schon immer so war. Dass für unterklassige Männerteams enorme Summen ausgegeben werden, sei normal. Trainings- und Siegprämien seien selbst auf Kreisebene keine Seltenheit. Den allermeisten Frauenfußballabteilungen fehle es dagegen an Förderung, Stellenwert und Anerkennung.
Ziel sollte es jedoch sein, dass Männer- und Frauen-Abteilungen gemeinsam und gleichberechtigt erfolgreich existieren, appellieren die ehemaligen Lollarer Spielerinnen abschließend in ihrem Statement. Dann könnten sich alle auf das konzentrieren, was sie doch so gerne tun: Fußball spielen.