Verbogene Zäune, kaputter Pokal

Gießen . Wenn am Ende eines Spiels der Trainer des unterlegenen Teams sagt, er wolle gar nicht wissen, »was passiert wäre, wenn wir hier das Ausgleichstor gemacht hätten oder als Sieger vom Platz geganen wären«, dann muss etwas gehörig schiefgelaufen sein in den 90 Minuten zuvor.
Ersan Parlatan, Trainer des mit 0:1 gegen die Offenbacher Kickers unterlegenen Hessenpokal-Endspielgegners TSV Steinbach-Haiger, gab dieses Statement nach Spielschluss vor den Kameras des Hessischen Fernsehens. Und wenn ein Trainer zuvorderst nicht darüber enttäuscht ist, dass eine letzte hochkarätige Chance in Minute 90 nicht im Tor landet, sondern er die »Sorge um die Sicherheit und Gesundheit von mir und den Spielern« vorrangig thematisiert, fast froh scheint, am Ende verloren zu haben, dann bleibt ein fader Beigeschmack zum hessischen Kapitel des als Fußballfest verkauften Endspieltags der Amateure. In Gießen.
»Bespuckt, beleidigt und mit Fausthieben traktiert« seien sie von OFC-Fans worden, so Parlatan, dessen Mannschaft nach dem Pokalfight am Samstagmittag deshalb der Siegerehrung fern blieb. Der die Frage anschloss, »was der Hesische Fußball-Verband für eine Idee hatte, so ein Pokalendspiel mit so einer Brisanz und so einer Fanpower in so einem Stadion spielen zu lassen? Ich glaube nicht, dass meine Spieler und ich in irgendeiner Weise geschützt wurden.«
Und so war - zumindest aus Sicht des Steinbachers - am Ende der Sport in einem Pokalfinale, das der Höhepunkt der Saison hätte werden sollen, zur Nebensache geworden. Und Gießen, das Waldstadion, die Bedingungen vorort, aber auch das Sicherheitskonzept dominierten die TV-Berichterstattung des von Sasa Strujic durch ein Eigentor (39.) entschiedenen Fights vor offiziell 3875 Zuschauern.
Schon während der Übertragung hatte Florian Nass in der ARD vom Waldstadion als »einem alten Kasten« gesprochen, beklagte er zudem einen »nicht finaltauglichen Rasen«, der tatsächlich im Fünfmeter-Raum und auf Höhe der Mittellinie blanke Erde aufwies. Waren das lediglich Schönheitsfehler und kleine kosmetische Probleme, so konnte man angesichts der schon in Durchgang eins reihenweise weggetragenen verbogenen Bauzäune nur verwundert den Kopf schütteln. Die hielten nicht nur dem Ansturm nicht stand, sondern erinnerten in ihrer Ausrichtung mehr an eine besucherfreundliche Umzäunung im Streichelzoo. Und als in Minute 39 Unglücksrabe Strujic, bedrängt von dem zunächst als Torschützen benannten Serkan Firat, ins eigene Netz traf, waren ruckzuck die ersten OFC-Fans dort, wo sie nicht hingehören: Auf dem Platz. Was angesichts des Fan-Aufmarschs in Rot-Weiß, trotz der vor und im Stadion vorhandenen massiven Polizeipräsenz, nicht verwunderte.
Denn ein solches Spiel mit einer derartigen Intensität auf den Rängen hat das Waldstadion in seiner Geschichte wohl noch nicht erlebt. Das »You’ll never walk alone«, vor Anpfiff aus tausenden Kehlen gesungen, sorgte für Gänsehautatmosphäre der positiven Art.
Dass hinterher nach Abpfiff und Platzsturm die Spieler »not alone walkten«, sorgte dagegen für unangenehme Gefühle, auch wenn, wie immer in solchen Fällen, nur eine geringe Anzahl der Fans weniger der Freude als ihrer Abneigung gegen die Spieler des Kontrahenten Ausdruck verleihen wollten. Doch zu diesem Zeitpunkt waren nicht nur schon etliche Bauzäune zerbröselt, der Pokal angeknackst und das Vertrauen in das Sicherheitskonzept erschüttert, sondern auch das Image der Sportstadt Gießen bundesweit dank der Übertragung ramponiert.
Schade, denn die intensive Begegnung der beiden in der Regionalliga Südwest unter Erwartung eingelaufenen Teams, war es wert, auch sportlich gewürdigt zu werden. Mit einer unter dem Strich stärkeren ersten Hälfte der Offenbacher Kickers und einer spielerischen Dominanz des TSV Steinbach-Haiger in Durchgang zwei. Ersan Parlatan, der TSV-Trainer, hatte das auch so gesehen. Und bedauerte einerseits, dass die Riesenchance in letzter Minute noch geblockt wurde, war aber andererseits auch froh. »Wer weiß, was passiert wäre.« Immerhin, so beschied er: »Von der Stimmung her war es aber sehr, sehr gut.«