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Viele Menschen und ein Fußball-Gott

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Doch noch großer Jubel vor großer Kulisse: Junghyun Kim und Spielführer Abdel Ghani Wessam feiern den Torschützen Matheus de Moura Beal. Foto: Imago © Imago

Spitzenspiel der Hessenliga zeigt Gießener Zuschauer-Potenzial. Eine Halbzeit gepflegte Langeweile, dann wird’s interessant.

Gießen . Wer länger nicht im Gießener Waldstadion gewesen sein sollte, am Samstag aber angesichts des Gegners und der Konstellation an der Hessenliga-Tabellenspitze mal wieder den Weg dorthin gefunden hatte, dürfte sich die Augen gerieben haben. Verbunden mit der Frage, ob man was verpasst habe und der FC Gießen vielleicht doch noch in der Regionalliga spiele? Lange Schlangen vor den Kassen, von der Grünberger Straße als auch der Anneröder Siedlung zahlreich pilgernde Menschen mit Eintracht-, aber auch rot-weißen FC Gießen-Schals. Das hatte man in dieser Größenordnung tatsächlich lange nicht gesehen, was nicht nur mit Corona zu tun hatte.

Ob es am Fußball-Gott lag, der leibhaftig als Alex Meier im schwarz-weißen Eintracht-Bus saß, immerhin nicht auf einer Wolke einschwebend, oder an der doch weithin sichtbaren Werbung, die Michél Magel und seine ehrenamtlichen Helfer auf den Weg gebracht hatten, sei dahingestellt. So oder so waren die offiziell 2312 Zuschauer eine beeindruckende Kulisse für das Gastspiel des klaren Aufstiegsfavoriten der U21 Eintracht aus Frankfurt und dem ersten Verfolger FC Gießen, dessen Spieler eigentlich in großer Zahl im Frankfurter Bus hätten mitfahren können. Denn die Mannschaft von Daniyel Cimen hat den gleichen Anreiseweg zum »Heimspiel«. Wohnen ja fast alle im Rhein-Main-Gebiet. Sei’s drum - angesichts des Zuschauerzustroms war das Event am Samstag tatsächlich gut organisiert. Geschäftsführer Magel, der nach Aussage keiner ist, aber genau das tut, was man in dieser Position macht, hatte mit seinem Statement vor Restrundenstart nicht Unrecht: »Es bewegt sich was beim FC Gießen.« Das Drumherum der Partie am Wochenende besaß Niveau.

Auch wenn man sagen muss, dass es sehr viel (und nichts Gutes) über die Liga aussagt, wenn in den anderen neun Partien zusammengezählt etwa 800 Zuschauer weniger kommen als zu der einen Begegnung in Gießen. Hessenliga ist fünftklassig, der Publikumszuspruch aber mittlerweile siebt- bis achtklassig, umso mehr fällt ein Spiel wie am Samstag aus dem Rahmen. Trainer Daniyel Cimen bedauerte es denn auch ein wenig, »dass dieses Spiel so früh im Jahr stattfindet. Was hätten wir da drei Wochen später bei wärmerem Wetter erst für Zuschauer gehabt?« Und kam nicht umhin, eine relativierende sportliche Einordnung vorzunehmen: »Man hat schon gemerkt, dass wir noch kein Spiel hatten und die Eintracht auch noch nicht voll auf Betriebstemperatur ist«, legte er den Finger in die Wunde eines Spiels, das in Hälfte eins mit gepflegter Langeweile und einem Frankfurter Zufallstreffer ausreichend beschrieben ist. Dass der nette Herr Cimen auch anders kann, diesem Umstand war es wohl zu verdanken, dass die zweiten 45 Minuten ob Gießens Bemühungen, den Ausgleich zu erzielen, deutlich interessanter wurden. Denn Cimen war nach eigenem Bekunden in der Pause »laut geworden«, andere Beteiligte sprachen von »sehr, sehr laut und sauer«. Der 38-Jährige hatte jedenfalls den richtigen Ton getroffen, denn er war mit der ersten Halbzeit gar nicht einverstanden: »Wir stehen für mutigen und angriffslustigen Fußball, aber in der ersten Hälfte haben wir Angst gehabt und gehemmt gespielt, das will ich nicht sehen«.

Auch wenn die Angriffslust wenig zielgerichtet war und an der überraschend passiven Eintracht-Haltung, das 1:0 genügsam und humorlos zu verteidigen, abprallte, lebten die zweiten 45 Minuten von der Spannung, den die immer wieder nach vorne preschenden Gastgeber verursachten. Würden sie den Ausgleich noch schaffen? Auch die 2312 Zuschauer waren nun ab und an zu hören, während es vor der Pause trotz mächtiger Kulisse zumeist so still war wie im Wartezimmer einer urologischen Praxis. Das 1:1 fiel schließlich nach dem Motto: besser spät als nie. Der manchmal zu ungelenken Entscheidungen neigende Schiedsrichter Schandry aus Königsstein hatte beim allerletzten Flankenball des FC auf Handelfmeter entschieden. Ben-Luca Fisher, Ex-Gießener im Frankfurter Dress, der zuerst verdächtigt wurde, beschrieb die Szene im Nachhinein angesäuert: »Der Schiedsrichter hat gesagt, er habe irgendeine Hand am Ball gesehen, naja…" Den Elfmeter verwandelte Gießens Beal mit etwas Glück zum 1:1. Da kam zu guter Letzt Regionalliga-Stimmung auf.

Ob der FC Gießen mit einem Aufstieg tatsächlich gut beraten wäre, ist angesichts der nach wie vor bestehenden Verhandlungen mit »zwei Großgläubigern« fraglich. Konsolidierung first. Finanziell schwebt ebenso ein Fragezeichen über dem Waldstadion wie in Sachen Vereinsstrukturen, die ein immer noch sich ausschweigender Notvorstand verwaltet. Das Spitzenspiel, das das Zuschauer-Potenzial des Fußballs in Gießen zeigte, verdeckt die Unklarheiten für einen schönen Moment.

Umzug nach Hanau

Am Ende aber stand bei vielen Fans der Fußball-Gott im Mittelpunkt, musste Alex Meier noch reichlich Autogramme schreiben und Selfies machen lassen. Er tat es geduldig. Ehe im VIP-Zelt Giovanni Fallacara, aus Hanau kommend, als Sportlicher Leiter präsentiert wurde. Ein Witzbold auf der Tribüne meinte, dass der FC Gießen ja künftig in Hanau trainieren könne. »Da haben Spieler und Trainer es nicht so weit zu fahren und bessere Bedingungen.« Und, so mag man ergänzen: Spielen können sie ja trotzdem im Waldstadion. Denn das hat gut geklappt und war bestens besucht.

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Trost vom Fußball-Gott und dem »Gießener« Eintracht-Zeugwart: Frankfurts Torhüter Simon Simoni hat den Elfmeter passieren lassen müssen, ist aber mit Sascha Becker und Alex Meier (von links) schon im Verarbeitungsmodus. Foto: Imago © Imago

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