Von der ersten Liga auf VfB-Bank

Gießen . Nicht nur Daniyel Cimen, der bekanntlich für Eintracht Frankfurt in der Bundesliga gespielt hat und weiterhin den FC Gießen trainieren wird, auch viele seiner Vorgänger im Gießener Waldstadion, die einst den VfB 08 oder den VfB 1900 Gießen betreut haben, kannten den Spitzenfußball aus eigener Erfahrung.
Der Reigen der Trainer, die vor dem Hintergrund einer Karriere in der höchsten deutschen Spielklasse ihren Dienst im Gießener Waldstadion antraten, begann vor mehr als 70 Jahren im Sommer 1951 mit Karl Vetter, der in den 1930er und 1940er Jahren sowohl das Tor des VfR Mannheim als auch des Nachbarn vom SV Waldhof gehütet hatte. Wiederholt stand Vetter im Kasten der badischen Gauauswahl und kam auch diverse Male in Endrundenspielen um die Deutsche Meisterschaft zum Einsatz. Kurz bevor Vetter den VfB 08 Gießen in die höchste Amateurklasse führte - er wurde quasi über Nacht für die entscheidenden Aufstiegsspielen verpflichtet - war er mit Olympia Lampertheim noch überraschend Hessenmeister geworden.
Auf Vetter, der den Gießenern 1952 den Klassenerhalt im hessischen Oberhaus sicherte, folgte zur Spielzeit 1952/53 Arthur Böttgen, der mit dem FSV Frankfurt als Außenläufer nicht nur in der Gauliga gespielt hatte, sondern 1938 auch im Finale um den Vorläufer des DFB-Pokals, den Tschammer-Pokal, stand, dass die Bornheimer nur unglücklich mit 1:3 gegen Rapid Wien verloren. Böttgen erreichte mit den VfB einen erstaunlichen fünften Platz, musste sein Engagement im Folgejahr aber abrupt beenden, da er in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt wurde. Nachfolger wurde übrigens sein Vorgänger Vetter, der die Gießener neben seinem Engagement bei Darmstadt 98 einfach für den Rest der Spielzeit mitbetreute.
Auch Richard Kudelka, der dann ab 1954 für zwei Jahre das Sagen beim VfB 08 hatte, war ein Mann, der den Erstligafußball aus eigenem Erleben kannte, denn er war einst für Austria Wien aufgelaufen, auch wenn er, nun ausgestattet mit einem schwedischen Pass, aus Skandinavien an die Lahn kam und sich mit dem schlichten Trainingsgrundsatz »Kondition, Kondition und nochmals Kondition« vorstellte. Der Erfolg gab ihm allerdings recht, denn lange spielten die Gießener um die Meisterschaft mit und landeten schließlich nur knapp geschlagen auf Platz drei.
Willi Scheuermann war ab 1956 der erste Trainer des aus der Fusion des VfB 08 mit der Spielvereinigung 1900 hervorgegangenen VfB 1900 Gießen. Mit 1900 hatte er gerade die Meisterschaft in der A-Klasse gewonnen, aber selbst gespielt hatte er für Rot-Weiß Frankfurt u. a. auch in der Oberliga Süd und sich dort als torgefährlicher Angreifer einen Namen gemacht. Ihn ereilte jedoch ein ähnliches Schicksal wie Arthur Böttgen, denn nach einem Verkehrsunfall musste auch er sein Amt zur Verfügung stellen.
Erster deutscher WM-Torwart
Scheuermann selbst empfahl dann einen Mann zu seinem Nachfolger, dem in punkto Erfahrung wohl kaum jemand das Wasser reichen konnte: Wilhelm Kreß, den jedoch alle Welt nur Willi oder Willibald rief. Der gebürtige Frankfurter hatte von 1926 an über 20 Jahre lang immer in der höchsten Spielklasse gespielt und im deutschen Fußball von der Meisterschaft über den Pokal bis zu den verschiedenen Wettbewerben der Landesverbände alles gewonnen, was es seinerzeit zu gewinnen gab - und das gleich mehrfach. Er war zudem Nationalspieler und Deutschlands erster WM-Torhüter, auch wenn seine schwache Tagesform im Halbfinale 1934 der deutschen Elf vermutlich die Endspielteilnahme gekostet haben dürfte. Aktiv hatte Kreß für Rot-Weiß Frankfurt, den Dresdner SC (wo er seine größten Erfolge feierte) und den FSV Frankfurt gespielt und als Trainer anschließend u. a. für den Hessischen Fußballverband und den FSV gearbeitet. In Gießen blieb Kreß für den Rest der Spielzeit 1956/57, betreute aber ab November auch noch Wormatia Worms in der Oberliga Südwest, wohin er schließlich auch zur neuen Spielzeit wechselte.
Nun wurde es wieder internationaler auf dem Waldsportplatz, denn der neue Trainer hieß im Sommer 1957 Julius Kolosca und kam aus Ungarn, wo er zumindest als Manager der Spitzenmannschaft Ferencvaros Budapest die große Fußballwelt kennengelernt hatte. In Gießen in Erinnerung geblieben ist er jedoch vor allem, weil er sich im Weihnachtsurlaub per Postkarte(!) abmeldete und mitteilte, er trainiere ab sofort in Utrecht.
Von St. Paulis Wunderelf
In den 1960er Jahren war es dann neben Willibald Kreß - er kehrte 1961 nach Gießen zurück und führte den VfB 1900 in der Folge zur Hessenmeisterschaft (1963) und zum Sieg im Hessenpokal (1964) - auch Walter Böhme, der zur Saison 1968/69 mit Erstligaerfahrung aufwarten konnte, hatte der neue Trainer doch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch bevor die Oberliga Nord ihren Spielbetrieb aufnahm in der sogenannten »Wunder-Elf« des FC. St. Pauli gespielt, die für kurze Zeit die Dominanz des großen HSV brechen konnte. Allerdings bewahrte ihn dies nicht davor, dass seine Zeit beim VfB 1900 schon nach gut einem halben Jahr wieder abgelaufen war, da es zu unüberwindlichen Spannungen mit der Mannschaft gekommen war.
Otmar Groh und Rolf Birkhölzer hießen im folgenden Jahrzehnt die beiden Trainer, die ihre Erfahrungen als Erstligatorhüter dem VfB 1900 zu Gute kommen ließen. Groh, der die Gießener zwischen 1971 und 1973 unter seinen Fittichen hatte und 1972 mit seiner Elf den Hessenpokal gewann, hatte sowohl für Viktoria Aschaffenburg als auch für Kickers Offenbach in der Oberliga Süd gespielt und am Ende seiner aktiven Laufbahn 1964 fast 200 Erstligaeinsätze absolviert. Birkhölzer, der in der Saison 1975/76 der erste Spielertrainer im Waldstadion wurde und diese Rolle bis 1978 ausfüllte, konnte hingegen »nur« auf 12 Einsätze in der Bundesliga für den 1.FC Köln in der Saison 1968/69 verweisen, dafür aber auch auf zwei Einsätze im Europapokal und das auch noch gegen den großen FC Barcelona.
Spielertrainer ist auch das Stichwort für den nächsten ehemaligen Erstligaspieler, der im Gießener Waldstadion als Trainer aufschlug, denn Willi Wagner, der für Darmstadt 98 rund 400 Pflichtspiele in der 1. und 2. Bundesliga bestritten hatte, übernahm das Traineramt 1983, ein Jahr nach dem Abstieg des VfB 1900 aus der Hessenliga. Und er sollte es für mehr als zehn Jahre nicht mehr aus den Händen geben, wenngleich es ihm nicht vergönnt war, die Gießener wieder zurück ins hessische Oberhaus zu führen.
Das gelang erst Horst Heese 1995. Gemessen an der Verweildauer seines Vorgängers gab der ehemalige Bundesligaprofi der Frankfurter Eintracht und des Hamburger SV, der neben den Offenbacher Kickers und der Eintracht auch schon die Nationalelf von Malta trainiert hatte, jedoch ein vergleichsweise kurzes Gastspiel in Gießen, das im August 1996 genauso überraschend endete, wie es gut zwei Jahre zuvor begonnen hatte.
Malta und der VfB 1900
Einer seiner Nachfolger wurde übrigens Peter Sichmann, der zwar in der Bundesliga zu keinem Einsatz gekommen war, aber in der Saison 1972/73 immerhin für ein Jahr im Kader von Fortuna Düsseldorf gestanden hatte.
Nach längerer Pause übernahm dann in der Saison 2011/12 mit Matthias Hagner erneut ein Ex-Profi das Zepter im Waldstadion. Der gebürtige Gießener, der in der Bundesliga u. a. für Frankfurt, Stuttgart und Mönchengladbach rund 100 Spiele bestritt, konnte den VfB 1900 bei seinem einjährigen Gastspiel aber nicht zurück ins hessische Oberhaus führen.
Bleibt schließlich noch der Steinbacher Niko Semlitsch, der für die Offenbacher Kickers und den 1. FC Saarbrücken in den 1970er Jahren über 100 Spiele in der Bundesliga bestritten hatte und auch zum Amateurnationalspieler geworden war. Am Ende seiner langen Karriere nahm auch er 2014 auf der Trainerbank im Gießener Waldstadion Platz. An einen Aufstieg war zwar wieder nicht zu denken, aber er erreichte mit seiner Elf immerhin das Finale im Hessenpokal, das jedoch mit 1:2 gegen Hessen Kassel verloren ging.
Ob die vielfältige Erstligaerfahrung der genannten Trainer in ihrer Gesamtheit wirklich zur nachhaltigen Entwicklung des Gießener Fußballs beigetragen hat, lässt sich übrigens nicht belegen, dafür waren die Rahmenbedingungen rund um das Waldstadion in den vergangenen Jahrzehnten oftmals viel zu kurios. So dass die heimische Fußballgeschichte auch in dieser Beziehung wieder einmal Beispiele für alles liefert.