Wenn der Rollstuhl lockt
Wetzlar. Gar mancher Premierengast eines Spiels im Rollstuhlbasketball hat sich die Frage gestellt, wie denn diese Sportart aus dem weiten Feld der Paralympics ihren Nachwuchs rekrutiert. In Reha-Kliniken bei Unfallopfern werben? Bei geflüchteten Kriegsgeschädigten nachhorchen? Bei Kindern, die mit Handicaps auf die Welt gekommen sind, mit Sportrollstühlen aufkreuzen?
All das sind Rekrutierungswege, wenn man sich die Biografien der Protagonisten des Rollstuhlbasketballs anschaut.
Beim RSV Lahn-Dill geht es aber auch ganz profan. Hier gibt es eine Nachwuchs-Trainingsgruppe, die jüngst mit einem Dreierturnier auf sich aufmerksam machte. Beim 1. HBRS Youth Cup belegten die von Hans Groll betreuten RSV Juniors als Gastgeber den zweiten Platz.
Doch vielmehr als das gute Abschneiden mit einem 36:23-Erfolg gegen den Frankfurter Nachwuchs, die ING Skywheelers Youngsters, und der 29:40-Niederlage gegen die Rookie Rhinos aus Wiesbaden als Turniersieger hat den alten Haudegen Groll etwas ganz anderes gefreut. »Nach zweieinhalb Jahren Pause haben wir wieder eine starke Gruppe aufgebaut«, erzählt der Coach. Zwölf Spielerinnen und Spieler traten für den RSV Lahn-Dill an. Rund um die Topscorer, den quirligen Abdi Yusuf und den erfahrenen Jakob Theis, präsentierte sich ein bunt gemischtes Team. Von der elfjährigen Svenja Weber bis zur 20 Jahre alten Leonie Gail. Das Küken der Groll-Truppe, die neunjährige Paulina van der Schelde, war noch nicht mit von der Partie.
Für die lange Abstinenz gibt es zwei Gründe. Zum einen die Corona-Pandemie. Gerade in der Zeit der Einschränkungen wurden diese von etlichen Rollis noch rigider gehandhabt. Ihr strikter Lockdown war oftmals noch durch die Gefahr einer Erkrankung mit dem Covid 19-Virus und Auswirkungen auf weitere Beeinträchtigungen mitbegründet. Und so waren es auch gerade drei Kinder und Jugendliche beim Neustart im Frühsommer vergangenen Jahres. »Das war ganz mühsam am Anfang, das hat sich erst ganz langsam entwickelt«, blickt der erfahrene Übungsleiter zurück.
Doch die sportlichen Eleven staunten erst einmal. Denn ihr gewohntes Trainings- (und Spiel-)Domizil präsentierte sich in einem völlig neuen Gewand, innen wie außen. Der zuvor desolate Zustand der großen Sporthalle der Eichendorff-Schule in Wetzlar-Dalheim hatte dafür gesorgt, dass eben diese gesperrt worden war. Der zweite Grund für die lange Abstinenz des mittelhessischen Rollstuhlbasketball-Nachwuchses.
Jetzt ist die Dalheimer Halle aber ein Schmuckstück. Und dem RSV-Nachwuchs macht es sichtlich Spaß, hier weitere Erfahrungen in dieser dynamischen Sportart auf Rädern zu sammeln. »Die Halle ist jetzt komplett rollstuhlgerecht«, lobt Groll die Verantwortlichen von Politik und Bauamt. Nicht ohne zu verschweigen, dass es schon einiger Überredungskünste bedurfte, bis statt der ursprünglich vorgesehenen einen Toilette für Rollstuhlfahrer und -fahrerinnen sechs eingebaut wurden.
Nun hofft der Trainer mit seinem Team, dass die Halle in den Ferien zumindest teilweise genutzt werden darf. Denn in der Eichendorff-Schule lagert der Verein auch die Rollstühle, die bei Demonstrationszwecken und Schnupperkursen in Schulen, bei Vereinen oder anderen Institutionen genutzt werden. Übrigens ein weiteres Instrument der Nachwuchs-Suche.
Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Die Zusammenarbeit mit der Schule vor Ort läuft blendend, wie Hans Groll versichert. Die Kooperation mit der Eichendorff-Schule hat dazu geführt, dass etliche junge »Fußgänger«, also Menschen ohne körperliche Beeinträchtigungen, Gefallen am Rollstuhlbasketball gefunden haben.
Hier darf die Anekdote mit Fabian Gail nicht verschwiegen werden. Vor zehn Jahren sollte seine Schwester Leonie an die Sportart herangeführt werden. Doch die wollte damals noch nicht. Dafür ihr älterer Bruder. Und der fand als Fußgänger solchen Gefallen am Rollstuhlbasketball, dass er inzwischen Bundesliga spielt. Allerdings beim RSV-Konkurrenten ING Skywheelers aus Frankfurt, wohin ihn der sportliche Weg von den Lahn-Dillern aus geführt hat. Wenig überraschend, dass der 22-Jährige ab und an einmal eine individuelle Trainingseinheit in der Eichendorff-Halle absolviert.
Schließlich kommt er ja aus Dillenburg-Donsbach angefahren und spart sich so einen Teil des weiten Trips in die Rhein-Main-Metropole.
Was gut ins Bild passt. Vater Friedhelm Gail fungiert inzwischen als Betreuer und kümmert sich zusammen mit dem ehemaligen Frauennationalmannschafts-Trainer Groll sowie Teammanager Rainer Leubner um alle organisatorischen Belange. Auch die Abstimmung mit dem Stammverein und den Bundesliga-Verantwortlichen klappe immer besser, fügt der in Münchholzhausen wohnende B-Lizenz-Inhaber Groll hinzu. Wobei das Trio ohne die große Unterstützung der Eltern aufgeschmissen wäre.
Denn die Gails sind nicht die einzigen, die eine weitere Anreise haben. Thomas Jeske, die »gute Seele« der Gruppe und mit seinen 42 Jahren nicht mehr ganz unter die Rubrik Nachwuchs fallend, kommt aus Mengerskirchen, die Dogan-Zwillinge aus Herborn, Svenja Weber aus Leun und Joshua Kaufmann aus Langgöns. Froh ist der Trainer aber, dass einige Team-Mitglieder kurze Anfahrtswege haben. Vor allem Abdi Yusuf, das große Bewegungstalent, der nach seiner Flucht aus Somalia mit Mutter und Geschwistern nach Dalheim gelotst werden konnte. Es sind halt viele (und manchmal beschwerliche) Wege, auf denen der Rollstuhlbasketball seine Akteurinnen und Akteure rekrutiert.