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»Wir waren ein verschworener Haufen«

Erstellt:

Von: Rüdiger Dittrich

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Benjamin und Senior: Gerd Kraus (79) und Karl-Heinz Wagner (fast 86). Alle Fotos: Hillgärtner © Hillgärtner

Gießen . Parkhotel Sletz, Frühstücksraum, piekfein, Kräppel, Gebäck, frischer Kaffee. Inhaberin: Christel Kraus, die Frau von Gerd Kraus. Ein Donnerstagnachmittag, Anfang Februar. Könnte es einen besseren Ort geben für so ein Gespräch in illustrer Runde? Exakt 60 Jahre liegt der lange Zeit größte Erfolg des heimischen Fußballs in diesem Jahr zurück.

Angesichts der Verwerfungen und Unklarheiten des Nachfolgevereins FC Gießen gibt es nicht wenige, die den historischen Erfolg nach wie vor weit höher einordnen als den Regionalliga-Aufstieg vor ein paar Jahren. So oder so ein schöner Anlass, mit denen zu sprechen, die dabei waren - 60 Jahre her, fünf Spieler von damals leben noch. Ernst Fischer, einer davon, kann aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Runde teilnehmen, die anderen aber sind umso munterer und bester Dinge, auch wenn so ein Treffen zwangsläufig eines ist, das auch mit Abschied(en) zu tun hat. Und so geht es los - am Ende werden zwei Stunden Text auf dem Band sein. Und nach der Eingangsfrage läuft alles wie von selbst. Also, wie war das damals, wie ist das heute - mit der Meisterschaft?

Zum Erfolgsrezept

Karl-Heinz Wagner: Ja, es ist schön, dass das jetzt zustande kommt. Wir haben uns ja Jahrzehnte immer wieder getroffen. Waren gemeinsam auf allen runden Geburtstagen.

Gerd Kraus: Das war schon ein verschworener Haufen .Helmut Jacob: Wobei wir beim Thema wären, denn fußballerisch waren wir nicht die Größten in der Hessenliga, aber von der Kameradschaft und dem Zusammenhalt passte kein Blatt Papier dazwischen. Das war unser Trumpf. Und vor allem auch der Verdienst von Willibald Kreß. Ich habe auch ein paar Gurken durchgelassen, kann mich aber nicht erinnern, einmal angeschissen worden zu sein. Unsere Kameradschaft war extrem.

Wagner: Wir waren zumeist 12 oder 14 Leute. Mehr waren es ja bei den Spielen nicht, weil es noch keine Wechsel gab. Wir waren qua Geburt verschieden, hatten eine unterschiedliche Ausbildung und Erziehung, hatten unterschiedliche Ansichten, aber wir haben uns da über den Sport zusammengefunden. Da war immer der Respekt vorhanden. Und die Toleranz, das war unser Plus. Und natürlich wurde auch viel gesungen.

Hans-Jürgen Himmelmann: Blau-weiß-grün, wie lieb’ ich dich.

Kraus: Ich bin mit Dieter Giesa 1962 vom MTV gekommen, aber obwohl ich der absolut jüngste war, gab es da nie Probleme.

Jacob: Ich hatte mal ein Probetraining in Offenbach, da stand ein Wechsel im Raum. Dann kam Willibald Kreß zu mir und hat gesagt: Das kannst du doch nicht machen, wir wollen doch nächstes Jahr Hessenmeister werden.

Zu Willibald Kreß...

Wagner: Früher war der Trainer die unantastbare Respektsperson. Heute wird er nach drei Niederlagen vom Hof gejagt. Das geht aber nicht, denn der Trainer ist immer die wichtigste Person, er ist so oder so der Kopf der Mannschaft. Und hält ihn auch dafür hin.

Kraus: Für mich war Willibald Kreß eine Vaterfigur und Respektsperson.

Wagner: Das war er für uns alle.

Jacob: Bei einem Spiel in Kirchhain hatte mir bei einer Rettungsaktion der eigene Mann den Kiefer kaputtgetreten. Willibald Kreß hat mich dann nachts um eins angerufen, mich gefragt, ob ich eine Tetanus-Impfung hätte, das sei wichtig bei der Verletzung. Er hat mich in der Nacht noch abgeholt und ins Krankenhaus gefahren, damit ich geimpft werden konnte. Er hat mir auch Fußballschuhe gekauft, weil ich kein Geld dafür hatte.

Kraus: Ich war ja der jüngste, hatte gerade den Führerschein gemacht. Und da hat Willibald gesagt: Du sollst auch was kriegen. Du bekommst mein Auto. Dann hatte ich einen Opel Olympia vor der Tür stehen. Hat er mir einfach geschenkt. So war er.

Training…

Jacob: Zweimal die Woche haben wir trainiert. Ich hatte aber auch öfter mal Straftraining, wenn etwas nicht geklappt hat. Einmal hat Willibald, weil er mit meinem Rauslaufen nicht zufrieden war, einen Sandsack vom Boxclub geholt und an den Galgen fürs Kopfballpendel gehängt. Dann hat er den Torwart seines ehemaligen Vereins aus Wuppertal dazu geholt. Willibald hat die Flanken geschlagen und der Torwart, ein mords Athlet, hat mir den Sandsack während des Flugballs um die Ohren gehauen. Da habe ich gelernt, wie man energisch rausgeht.

Himmelmann: Ich muss als Mitspieler sagen, dass wir immer gute Leute im Tor hatten, aber die waren hauptsächlich auf der Linie stark. Als Helmut kam, konnte ich als Stürmer dagegen immer beruhigt nach hinten schauen. Er hatte ein gelbes Torwarttrikot an, und wenn es was zu fischen gab, sah man ihn durch den Strafraum fliegen. Er kam immer raus. Die anderen Torhüter zuvor hat man da nie gesehen.

Zur Zuschauerresonanz und den Bedingungen

Jacob: Sonntags hat zuerst die Reserve auf dem alten 50er-Platz gespielt, der war nur 60 Meter vom Stadion weg, wo heute der Parkplatz vom Kugelberg ist.

Wagner: Der Platz hatte in der Mitte schwarze Asche.

Jacob: Da waren dann 500, 600 Zuschauer bei der Reserve, die alle nach dem Abpfiff zum Spiel der Ersten ins Waldstadion gepilgert sind. Und da hatten wir ja meist 3000 Zuschauer und mehr.

Wagner: Selbst am Faschingssonntag kamen 2200 Zuschauer.

Jacob: Bei einem Spiel gegen Kirchhain war der Platz vereist, wir haben uns gar nicht umgezogen, weil wir dachten, das Spiel fällt sowieso aus. Der Schiedsrichter kam aber aus Kassel und hat gesagt, er komme doch nicht umsonst von Kassel hierher. Und dann wurde eben gespielt: Auf vereistem Platz bei eiskaltem Regen. Trotzdem waren 1200 Zuschauer da.

Wagner: Eine der wichtigsten Errungenschaften war später das Flutlicht. Wir haben ja im Winter oft nur in einer Reihe laufen können oder sind auf die Betonstraße Richtung Rödgen ausgewichen, um da Kondition zu bolzen. Im Winter haben wir ja Torschuss im Dunkeln machen müssen.

Jacob: Bei Willibald Kreß haben wir keine Taktik gemacht. Der hat nur gesagt: Ich brauche einen Torwart, der alles zusammenhält und dirigiert, ich brauche einen Mittelläufer, der aufräumt, einen im Mittelfeld, der Pässe schlagen kann, und vorne müssen sie halt die Tore machen.

Kraus: Ein Abschluss-Spielchen gab es immer. Ansonsten waren es immer die selben Übungen, Hacken anziehen, Knie Richtung Brust, dann mal ein Sprint. Wenn man das heute anbieten würde, würden sie alle weglaufen. Besonders im Winter im Dunkeln war das kein Spaß.

Wagner: Das mache ich heute noch jeden Morgen: Die Knie an die Brust geht zwar nicht mehr ganz, aber immerhin Knie Richtung Brust. Jeden Morgen 50 mal.

Jacob: Zum Abschluss gab es immer Torschuss. Die Bälle wurden auf die Strafraumlinie gelegt, dann wurde geschossen. Wenn ich den einen abgewehrt hatte, kam der nächste. Da bin ich nur so geflogen. Mit dem besonderen Anreiz: der, der das 20. Tor geschossen hat, bekam von Willibald ein Bier. Und wenn ich keine 20 durchgelassen habe, bekam ich von Willibald ein Essen. Und da ich keinen Pfennig Geld hatte, kann man sich vorstellen, wie ich da rumgeflogen bin.

Himmelmann: Das hat mir besonders gefallen, wie du geflogen bist. Links, rechts, rechts, links.

Wagner: Als wir endlich eine Lampe oben am Scheibenhaus hatten, hatten wir immerhin eine kleine Ecke auf dem Platz, wo es beleuchtet war. Da konnten wir wenigstens ein bisschen mit Ball arbeiten. Ansonsten ging es, wie gesagt, schon auch mal auf die Betonstraße.

Himmelmann: Das gilt nicht für alle. Ich habe nicht immer mittrainiert, sondern dann eher Sachen für mich geübt. Gott sei dank habe ich ab und an ganz gut gespielt, da wurde mir das von meinen Kameraden nachgesehen, wenn ich nicht jede Übung mitgemacht habe.

Jacob: Das war dein Glück.

Himmelmann: Ja, das war mein Glück. Ich habe halt immer das für mich trainiert, was ich für wichtig erachtet habe. Ich konnte es nicht leiden, wenn es hieß, jetzt werden Runden gedreht. Da habe ich mir immer gesagt: da wirst du ja nur schlechter, du musst was anderes trainieren.

Jacob: Der Herr Himmelmann hat schon seine Vorrechte gehabt in der Mannschaft, die hat er sich freilich auch erkämpft und erspielt. Er hat ja manches Spiel alleine entschieden, deshalb war das in Ordnung. Da gibt es keine Diskussion darüber.

Himmelmann (lachend): Ja, das wusste ich ja auch. Und weiß es heute noch. Ich habe allerdings mehr trainiert als die anderen. Nur halt eher für mich. In den Auswahlen, wie Länderauswahl oder Amateurnationalmannschaft, konnte ich nicht für mich trainieren, da hätten mich die Trainer weggejagt.

Wagner: Sein Vorteil war: er war schnell und beidfüßig.

Himmelmann: Wir haben ewig auf der Straße gespielt, auf der Licher Straße, am Lutherberg. Da lernt man das.

Gerd Kraus kam direkt aus der Jugend vom MTV. Ein Problem?

Kraus: Nein, die Umstellung fiel mir nicht schwer. Ich hatte beim MTV in der süddeutschen Jugendauswahl gespielt, mit Sepp Maier und anderen Spielern, die später zu richtigen Legenden geworden sind. Als ich dann zum VfB ging, habe ich in den Senioren auch gleich alle Spiele gemacht.

Vom MTV kamen auch Dieter Giesa und Helmut Jacob - Abwerbung?

Kraus: Angesprochen wurde man vom VfB direkt nicht, aber bei mir wurde zum Beispiel mein Vater an der Arbeit gefragt, ob ich nicht mal hinkommen wollte. Da bin ich dann mal ins Training.

Zu diesen Zeiten gab es keine Auswechslungen…wie geht das?

Jacob: Ja, das war so. Ich hatte mal den Daumen gebrochen, habe weitergespielt, ich habe mit gebrochenem Schlüsselbein gespielt. Ich hatte sieben Gehirnerschütterungen, habe durchgespielt. Gegen Germania Ober-Roden haben wir 6:0 geführt, da kam einer auf mich zu und hat mir gegen den Kopf getreten. Da konnte ich nicht mehr. Da ging dann Arno Reeh ins Tor.

Kurze Debatte über das Alter und Fotos…

Himmelmann: Oh, da sehe ich so alt aus auf den Fotos.

Jacob: Du siehst gar nicht alt aus. Ich habe ja in fast allen Ligen Fußball gespielt, aber die, die heute 85, 86 sind und Fußball gespielt haben, die sehen immer noch frisch aus. Vor allem der Jürgen. Wahrscheinlich weil er nicht trainiert hat.

Himmelmann: Und du siehst so alt aus, weil du so viel trainiert hast. Und dich für den Verein aufgeopfert hast. Kleiner Scherz.

Jacob: Der Bubi Schwab hat mich an der Herderschule entdeckt. Da haben wir mit Straßenschuhen in Wetzlar im Stadion gegen andere Schulen gespielt. Am nächsten Tag kam er mit seinem Vater, der Jugendleiter bei 1900 war, zu uns nach Hause und hat zu meinem Vater gesagt: Wir hätten ihren Bub gerne bei uns als Spieler. Da hat mein Vater gefragt: Kostet das Beitrag? Er: Ja. Und mein Vater: Raaaaaauuuuus! Der hat sie rausgeschmissen. Dann kamen sie am nächsten Tag wieder. Da kam der 1. Vorsitzende mit. Und dann haben sie mich beitragsfrei gestellt. Da durfte ich mitspielen. Ich hatte aber keine Fußballschuhe und habe dann mit Straßenschuhen gespielt. Als ich in die Bezirksauswahl kam, hat mir mein Vater dann ein paar Fußballschuhe gekauft.

Zum Aufstiegsspiel gegen den VfB Stuttgart in Wiesbaden, das dramatisch verloren ging…

Jacob: Eins muss ich sagen. Ich war 27 Jahre mit Begeisterung Schiedsrichter, ich habe als Spieler nie eine gelbe Karte bekommen, aber wenn ich heute den Herrn treffen würde, der uns damals in Wiesbaden gepfiffen hat, ich würde ihm eine kleben.

Wagner: Oh, Helmut, du kannst ja ein Böser sein.

Jacob: Ja, da schon. Der hat uns verpfiffen und verschoben.

Und was wäre passiert, wenn ihr es geschafft hättet in die 2. Liga?

Jacob: Der VfB Gießen hätte mit Geld anfangen müssen.

Wagner: Ich habe es mal folgendermaßen zusammengefasst: Wären wir damals aufgestiegen, wäre der Verein schon früher kaputtgegangen.

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Auch mal ein Spiel alleine entschieden: Hans-Jürgen Himmelmann (85). © Red

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