32 Minuten regnet es Zerstörung

Rund 70 Prozent der Bausubstanz ganz Gießens lagen in Schutt und Asche. Die 800 Toten des 6. Dezembers 1944 stellen den verheerendsten Tag des Luftkrieges in der Stadt dar.
Gießen . Es ist eines der einschneidendsten Ereignisse in der Geschichte Gießens: Als am Abend des 6. Dezember 1944 die Alliierten die Stadt bombardieren, fallen dem Angriff 800 Menschen zum Opfer. Ein Großteil der Stadt, insbesondere deren Kern, wird zudem zerstört. Mit einer Gedenkveranstaltung ist nun der Toten gedacht, aber auch an die Schrecken der NS-Herrschaft sowie an aktuelle Verbrechen erinnert worden.
Stadtkern in Schutt und Asche begraben
Der Ort des Gedenkens war die Pankratiuskapelle, einen Katzensprung vom Stadtkirchenturm entfernt. Die Gebäude haben nicht immer zusammengehört, berichtete Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher. Vor den Bombenangriffen stand am Kirchenplatz eine ganz andere Kirche. Aus deren Trümmern wurde schließlich die Kapelle erbaut, welche den Gedenkenden nun als Veranstaltungsort diente. Es war bei weitem nicht das einzige Gebäude, welches bei den Angriffen zerstört wurde. Rund 70 Prozent der Bausubstanz ganz Gießens lagen in Schutt und Asche. Im Stadtkern waren rund 86 Prozent der Gebäude zerstört. Die 800 Toten des 6. Dezembers 1944 stellen den verheerendsten Tag des Luftkrieges in der Stadt dar. Glücklicherweise sollte es nicht mehr lang dauern, bis der Zweite Weltkrieg durch die Befreiung durch die Alliierten ein Ende fand.
Wolfgang Schößler war damals zehn Jahre alt, als innerhalb von nur 32 Minuten die Bomben auf Gießen niedergingen. Er lebte in einem Haus in der Schottstraße, unweit der Nordanlage. Schößler berichtet, dass der Luftalarm in etwa dann losging, als der Nikolaus normalerweise zu den Kindern gekommen wäre. Stattdessen eilten er, seine Mutter und sein 14-jähriger Bruder in den Keller. Zerberstende Fenster im Treppenhaus begleiteten die Familie auf dem Weg dorthin. Im Untergeschoss saß dem jungen Wolfgang dann eine Frau gegenüber, die Nikolauskleidung trug und zitternd eine dicke rote Kerze umfasste. Sie erlosch beinahe. »Eines der Bilder, das sich bei mir fest im Gedächtnis eingebrannt hat«, erklärt der 88-jährige.
Auch Ernst Baums hat den Angriff miterlebt. Er sprach allerdings nicht selbst. Stattdessen trug Frank-Tilo Becher dessen überlieferten Erlebnisse vor. Ernst Baums floh wie viele andere Gießener am Abend des 6. Dezembers mit seiner Familie vor den Bomben in das Kellergewölbe der Gummifabrik Poppe. Damit vertrauten er und viele seiner Zeitgenossen fälschlicherweise auf ihr eigenes Urteil, anstatt einer behördlichen Einschätzung zu folgen. Dies endete für 100 Gießener im Keller des Unternehmens tödlich. Der Zeitzeugenbericht zeichnet ein deutliches Bild der Schrecken des Bombenangriffs. So habe Baums in die erloschenen Augen von Mitmenschen geblickt, die nach dem Einschlag tot in das »Inferno« vor ihnen gesehen hätten. Viele starben am Luftdruck der Explosion. Baums beschreibt an die Wand gedrückte Menschen, deren Lungen »zerissen« seien. Nur circa 50 Gießener überlebten in dem vermeintlichen Schutzraum, der tragischerweise zu einem Massengrab wurde.
Aktuell wie nie
Die Beteiligten der Gedenkveranstaltungen wurden des Weiteren nicht müde, angesichts des derzeitigen Krieges in der Ukraine eine deutliche Haltung gegen den Krieg wachzurufen. »Als ich am 24. Februar im Fernsehen die Luftalarm-Sirenen hörte, lief es mir eiskalt über den Rücken«, so das Kriegskind Schößler. Die Bilder der Zerstörung von dort zu sehen erinnere ihn »an mein geschundenes Gießen«. Schößler betonte, welch Glück es ihn für ihn gewesen sei, lange ohne Krieg leben zu dürfen. Dafür, dass dieses Glück auch anderen zuteil werde, müsse gekämpft werden. »Wir dürfen nicht wegsehen und wir dürfen nicht schweigen, wenn Kriegshetze und Menschenverachtung von Demagogen gepredigt werden«, mahnte der 88-jährige.
In diese Kerbe stieß auch Anabel Ruiz Moreno, die an der JLU Theaterwissenschaften studiert und ebenfalls einen Redebeitrag vorbereitet hatte. Sie ließ verlauten, dass wir »einander in unserer Menschlichkeit wahrnehmen« müssen. Dafür schlug sie Dialog und Offenheit vor. Dem gegenüber stellte sie Entwicklungen wie die rechtsextremen und rassistischen Morde der vergangenen Jahre sowie Hass und Hetze in aller Öffentlichkeit und im Internet. Der Krieg in der Ukraine mache ihr außerdem Angst. Oberbürgermeister Becher wies zudem darauf hin, dass NS-Herrschaft und die Angriffe auf Gießen untrennbar miteinander verbunden gewesen seien. »Deshalb ist das Trauern immer auch ein Ringen«, so Becher. Dieser »Spagat« könne nicht aufgelöst werden und solle das vielleicht auch nicht.
Jene, die zu Wort kamen, darunter auch noch der Pfarrer Dr. Gabriel Brand von Evangelischen Dekanat Gießen, wurden außerdem auch noch musikalisch umrahmt. Die beiden Gitarristen Kyril Schmitz und Tim Schmitz mischten mit ihren Saiteninstrumenten einige traurige und schmerzliche Töne in den Abend, denen jedoch auch ein Stück weit trotzhafte Hoffnung und Glück innewohnte. Dazu leisteten die Architektur der Kapelle und der Kerzenschein ihren Beitrag. Am Ende ging es dann nach draußen: Vor dem Kirchenturm, wo unmittelbar daneben zurzeit der Trubel des gut besuchten Weihnachtsmarktes herrscht, steht ein Steindenkmal, welches den Opfern des 6. Dezembers 1944 gewidmet ist. Frank-Tilo Becher und der Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf brachten die Gedenkveranstaltung dort mit einer Kranzniederlegung zum Abschluss.
