80 Zentimeter zwischen Leben und Tod

Tödlicher Unfall in der Ludwigstraße: Der Fahrer wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
Gießen . Es sollten fröhliche Stunden auf Gießens Kneipenmeile werden, doch für einen jungen Mann aus Langgöns endete die Nacht tödlich. Mit mehreren Freunden hatte der damals 28-Jährige in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2022 in einer Bar in der Ludwigstraße gefeiert. Als sich die Männer gegen 2.30 Uhr auf den Heimweg machen wollten, wurde der Langgönser beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und durch die Luft geschleudert. Er erlag noch in der Nacht im Uniklinikum seinen schweren Verletzungen. Der Fahrer des Wagens musste sich am gestrigen Mittwoch unter anderem wegen fahrlässiger Tötung, Unfallflucht und Trunkenheit am Steuer vor dem Gießener Amtsgericht verantworten.
Dass die von Staatsanwältin Lisa Georg vorgebrachten Vorwürfe stimmen, daraus machte der 41-jährige Mazedonier, der in Frankfurt lebt, keinen Hehl. An jenem Juni-Tag sei er bei seinem Bruder in Gießen zu Besuch gewesen, gemeinsam habe man Freunde besucht und Bier getrunken. Zum Zeitpunkt des Unfalls seien sie auf dem Rückweg gewesen - der Bruder schlafend auf dem Beifahrersitz, er am Steuer des roten Renault Megane. Einen Führerschein hat der 41-Jährige jedoch nicht, laut seinem Pflichtverteidiger Fred-Hanno Sagert hatte er lediglich eine gefälschte belgische Fahrerlaubnis in der Tasche. Das Auto habe seinem Bruder gehört, er habe es in dieser Nacht erstmals gefahren.
Joints und Alkohol
Bei der späteren Blutuntersuchung wurde ein Alkoholwert von 1,84 Promille festgestellt. Zum Unfallzeitpunkt waren es laut dem Institut für Rechtsmedizin mindestens 1,98 und höchstens 2,34 Promille - volltrunken sei der Fahrer damit nicht gewesen. Auch THC wurde im Blut nachgewiesen. Der Angeklagte gab an, »zwei oder drei Tage« vor dem Unfall Joints geraucht zu haben.
Dass er in der Ludwigstraße einen Menschen angefahren hat, davon will der Frankfurter nichts mitbekommen haben: »Ich dachte, jemand hätte eine Flasche geworfen«, übersetzte die für ihn anwesende Dolmetscherin. Auch sei er lediglich mit Tempo 30 oder 40 und im ersten und zweiten Gang unterwegs gewesen und habe umkehren wollen, um denjenigen zu finden, der für den »Flaschenwurf« verantwortlich war.
Die Aussagen der Zeugen zeichneten jedoch ein anderes Bild: Er habe ein schnell fahrendes Auto gesehen und geschrien, sagte der heute 30-jährige Freund des Verstorbenen. Auch andere Leute hätten gebrüllt und »Fahr langsamer!« in Richtung des Renaults gerufen. Als er seinen verletzten Freund auf dem Boden liegen sah, sei er hinter dem Auto hergerannt, um das Kennzeichen zu notieren. »Ich habe ›Stopp, stopp, stopp!‹ gerufen, aber er fuhr immer schneller.«
Einen 27-jährigen Wetzlarer, der ebenfalls in Begleitung des Getöteten war, verfehlte das Fahrzeug nur knapp: »Ich habe noch den Fahrtwind gespürt. Ich hatte Glück.« Während sein Freund auf den Gehweg geknallt sei, habe der Fahrer Gas gegeben und sei abgehauen. Dass der Mazedonier zeitnah nach dem Unfall gestoppt werden konnte, ist einem Türsteher zu verdanken. Dieser hatte den 41-Jährigen auf einem Motorrad verfolgt und sich an einer roten Ampel in der Nähe des Dachcafé quer vor den Renault gestellt.
Unter den sieben geladenen Zeugen waren auch zwei Freundinnen, die zum Zeitpunkt des Unfalls auf dem Gehweg standen. Die Ältere der beiden, eine 43-jährige Altenpflegerin, wurde von dem Verletzten getroffen, als dieser durch die Luft geschleudert wurde. Durch den Aufprall verlor die Frau kurzzeitig das Bewusstsein, außerdem wurde sie am rechten Fuß verletzt. »Mir wurde schwarz vor Augen und im nächsten Moment habe ich mich auf dem Boden wiedergefunden. Es ging alles so schnell.« Durch die Wucht sei die Handtasche, die sie umhängen hatte, abgerissen und nur noch der Gurt an ihrem Körper gewesen. Die Tasche selbst habe neben dem Unfallopfer gelegen. Ihre Freundin beschrieb die massiven Verletzungen des Langgönsers und dass sie versucht habe, ihn zu beruhigen - eine Antwort des 28-Jährigen habe sie jedoch nicht bekommen.
Mit Tempo 60 unterwegs
Die wohl drängendste Frage beantwortete der Dekra-Sachverständige: Hätte der Unfall verhindert werden können, wenn der Angeklagte langsamer unterwegs gewesen wäre? Laut Gutachten ja. Demnach soll der Angeklagte zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes zwischen 60 und 64 Stundenkilometern gefahren sein - erlaubt waren hier maximal 50. Erst nach dem Unfall hat die Stadt in dem Bereich eine nächtliche 30er-Zone für die Wochenenden eingeführt.
Zwar wäre das Auto auch bei Tempo 50 erst rund elf Meter nach der Unfallstelle zum Stehen gekommen. Durch die geringere Geschwindigkeit hätte der Langgönser aber einen zeitlichen »Vorsprung« gehabt und wäre bereits zwischen 0,8 und einem Meter näher am Gehweg - und damit wohl bereits in Sicherheit - gewesen. Bei Tempo 35 wäre das Auto laut Gutachten sogar noch vor der Unfallstelle zum Halten gekommen.
Darauf verwies auch Strafrichterin Antje Kaufmann in ihrer Urteilsbegründung: »Alle, die Gießen kennen, kennen die Ludwigstraße und wissen, dass hier reger Betrieb herrscht - und dass die Straße von Menschen überquert wird, die nicht immer ganz nüchtern sind.« Auch Tempo 50 sei daher nicht angemessen.
Doch anstatt seine Geschwindigkeit an die Umgebung anzupassen, habe der Angeklagte nach dem Unfall sogar »noch ordentlich Gas gegeben, um sich der Feststellung seiner Personalien zu entziehen«. Es sei lediglich dem Zufall zu verdanken, dass es in dieser Nacht nicht noch mehr Opfer gegeben habe. Dass er habe wenden wollen, nahm Richterin Kaufmann dem Angeklagten nicht ab: »Das halte ich für eine Schutzbehauptung.«
Das sah auch Rechtsanwalt Mehmet A. Sahin so, der die Eltern des Getöteten als Nebenkläger vertrat: »Er ist noch 750 Meter weiter gefahren. Es hätte genug Möglichkeiten zum Wenden gegeben.« Sahin kritisierte zudem, dass der Angeklagte sich weder bei der Familie des Getöteten, noch bei der verletzten Zeugin entschuldigt habe. Die Eltern des Opfers, die in der Türkei leben und nicht an der Verhandlung teilnahmen, seien zudem von ihrem Sohn finanziell unterstützt worden. Sahin forderte eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren.
»Es gibt hier eigentlich nur Verlierer«, betonte Staatsanwältin Georg. Der Verstorbene und dessen Eltern, aber auch der Angeklagte, »der damit leben muss, dass aufgrund seines Verhaltens eine Person zu Tode gekommen ist«.
Der Frankfurter, der kurz vor der Urteilsverkündung auf Deutsch »Entschuldigung« gemurmelt hatte, wurde zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt - ein Monat mehr, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Die Strafe wird nicht zur Bewährung ausgesetzt. Er hat zudem die Kosten des Verfahrens und der Nebenklage zu tragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.