»Akten bis zur Decke gestapelt«

Ein ehemaliger Polizist aus Gießen ist wegen Strafvereitelung im Amt zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Er soll mehrfach Ermittlungsvorgänge manipuliert haben - aus Überforderung.
Gießen . Wenn Polizeibeamte vor Gericht erscheinen, dann tun sie das in der Regel als Zeugen. Nicht so am gestrigen Donnerstag: Dem 45-Jährigen, der sich vor dem Schöffengericht am Gießener Amtsgericht verantworten musste, wurde Strafvereitelung im Amt vorgeworfen. Von März 2020 bis Mai 2021 soll er mehrfach Ermittlungsverfahren nicht bearbeitet haben. Die Vorgehensweise stellte Staatsanwältin Beatrix Taiti dar: Mal habe er Unterlagen durch Rückdatierungen manipuliert, mal habe er vermerkt, dass Zeugen nicht zur Vernehmung erschienen seien - obwohl diese aufgrund der Nichtbearbeitung gar keine Vorladung erhalten hatten. In einem anderen Fall habe er ein Gespräch mit einem mutmaßlichen Opfer einer gefährlichen Körperverletzung fingiert und behauptet, der Mann habe seine Anzeige zurückgezogen. Seinen Job beim Polizeipräsidium Mittelhessen hatte der Angeklagte noch vor Beginn des Verfahrens selbst gekündigt.
»Hätte Notbremse ziehen müssen«
Dass die Vorwürfe gegenüber seinem Mandanten zutreffen, daraus machte Pflichtverteidiger Carsten Marx gleich zu Beginn keinen Hehl. Details zu einzelnen Taten könne der Angeklagte aber keine nennen. Nicht das »Ob«, sondern das »Wie« und »Warum« müsse im Mittelpunkt stehen, betonte Marx.
Sein Mandant sei als »hochdekorierter« Polizeibeamter von Frankfurt nach Gießen gewechselt, um sich die tägliche Pendelei zur Arbeit zu ersparen. Doch mit dem Wechsel habe »das Unheil seinen Lauf« genommen: Der 45-Jährige sei überfordert gewesen und leide bereits seit mehreren Jahren an Multipler Sklerose und dem Fatigue-Syndrom. Irgendwann hätten sich die Akten bis zur Decke gestapelt. »Er war psychisch schwer krank und hätte die Notbremse ziehen müssen«, betonte Marx. Hinzu kamen offenbar Spannungen mit den Kolleginnen und Kollegen. Sein Mandant sei wenig beliebt gewesen, Kollegen hätten den Mehrurlaub, der ihm als Schwerbehinderter zusteht, negativ kommentiert.
»Es war ihm bewusst, dass er kürzer treten muss, aber es fiel ihm schwer, das vor seinen Kollegen einzugestehen«, verdeutlichte Zita Grimm. Die Psychologische Psychotherapeutin war als Zeugin geladen, der Angeklagte hatte sich freiwillig bei ihr in Therapie begeben. Da man dem 45-Jährigen seine Krankheiten nicht ansehe, berge das die Gefahr, dass ihm immer mehr Aufgaben übertragen werden. Er habe erst lernen müssen, »Nein« zu sagen. Auch sei die Beziehung zu den Vorgesetzten konfliktbehaftet und der Angeklagte bereits vor der Zuspitzung unzufrieden in seinem beruflichen Umfeld gewesen.
Die frühere Vorgesetzte des Mannes, die ebenfalls als Zeugin geladen war, zeichnete das Bild eines motivierten Hauptkommissars mit beruflichen Ambitionen, der deutlich mehr Ermittlungsvorgänge bearbeitete, als seine Kolleginnen und Kollegen. Im beruflichen Alltag habe es »wenig bis keine Reibungspunkte« gegeben. »Ich hatte einen guten Eindruck von ihm«, sagte die 47-jährige Kriminalbeamtin. Er habe »nicht einmal gesagt, dass es zu viel Arbeit ist«. Sie habe ihm aber angeboten, er könne Vorgänge abgeben.
Ab September 2020 hätte das Tagesgeschäft wegen der Proteste gegen den Bau der Autobahn 49 jedoch allgemein gelitten, die Beamten seien rund um die Protestcamps im Einsatz gewesen. »Er hat sich oft freiwillig dafür gemeldet.« Als er später zur Polizeistation Gießen Süd wechseln sollte, habe er die Übergabe der Ermittlungsvorgänge an sie hinausgezögert. Ihr sei aufgefallen, dass einige der rund 40 Vorgänge lange liegengelassen worden seien - angesichts der Mehrarbeit durch die Protestcamps habe sie das aber akzeptiert. Erst im Frühjahr 2021 sei dann aufgefallen, dass »etwas nicht stimmt«.
Welche Konsequenz hätte es für den Polizeibeamten gehabt, wenn er gegenüber seiner Vorgesetzten eingestanden hätte, dass er mit der Arbeit nicht hinterher kommt, wollte die Vorsitzende Richterin Sonja Robe von der Zeugin wissen. »Dann wäre er nicht für eine Führungsposition in Frage gekommen.« Wie angespannt das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und seiner früheren Chefin ist, wurde auch für die Richterin deutlich: »Sie werden keine Freunde mehr.«
Staatsanwältin Taiti forderte 16 Monate Haft auf Bewährung sowie eine Geldstrafe und gab zu bedenken, dass einige Ermittlungsvorgänge aufgrund der Manipulation nicht weiterverfolgt werden konnten. Für Verteidiger Marx hatte der Angeklagte sich die schwerste Strafe jedoch bereits selbst auferlegt: »Polizist war sein Traumberuf.« Dass er sich nicht daran klammere, sondern gekündigt habe, erspare ein langwieriges Arbeitsrechtsverfahren. Auf ein abschließendes Statement verzichtete der frühere Polizist, den das Verfahren sichtlich belastete: »Ich kann leider nicht mehr.«
Das Schöffengericht verurteilte den 45-Jährigen wegen Strafvereitelung im Amt in 18 minder schweren Fällen zu einer zehnmonatigen Haftstrafe, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Richterin Robe verwies in ihrer Begründung auch auf die hohe Arbeitsbelastung, die die frühere Vorgesetzte bestätigt habe. Als Polizist habe der Angeklagte jedoch gewusst, welche Folgen seine Taten haben. Er muss zudem 2000 Euro an den Tierschutzverein Gießen zahlen und die Kosten des Verfahrens tragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.