1. Startseite
  2. Stadt Gießen

»Alle sitzen in einem Boot«

Erstellt:

giloka_0108_gedankenschi_4c
Beispielsweise nach dem Tod des Lebenspartners fühlen sich viele Hinterbliebene in ihrer Trauer mit der Situation überfordert und allein. Hier wollen die Ehrenamtlichen Hilfestellung geben. Symbolfoto: Marcel Kusch/ dpa © Red

Der in Gießen erst vor Kurzem gegründete Verein Gedankenschiff will Rettungsanker in Trauersituationen sein - auch über Konfessionsgrenzen hinweg.

Gießen. Wer einen geliebten Menschen verliert, selbst um sein Leben kämpft oder Krisensituationen, wie beispielsweise Unfälle, hautnah miterlebt, erfährt vielfältige Hilfe: Ersthelfer, Polizei, Feuerwehr, Notarzt und andere stehen den Betroffenen im entscheidenden Moment als »First Responders« zur Seite und stellen sicher, dass der erste Schock und die erste Trauer so gut es geht verkraftet werden.

Was passiert aber, wenn die Betroffenen nach einem solchen Ereignis wieder nach Hause kommen, ihren Alltag wieder aufnehmen müssen und die temporäre Versorgung der »First Responders« nicht mehr da ist?

Viele Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erleben mussten, finden sich plötzlich alleine in ihrem Zuhause wieder - ohne die familiären und sozialen Bindungen, auf die sie früher zurückgreifen konnten. Genau an diesem Punkt setzt das Programm des Vereins Gedankenschiff an. »Im normalen Umgang wissen viele nicht, wie mit Trauernden umgegangen werden muss«, erklärt die ehrenamtliche Mitarbeiterin Karin Boscov.

Als »Second Responder« hat es sich der relativ junge Verein zur Aufgabe gemacht, die Lücke zwischen der Erstversorgung und dem Alltag der Hinterbliebenen schließen. »Mit dem Tod scheint es so abgeschlossen zu sein. Aber die Trauer, die darauf folgt, wird gar nicht mehr gesehen«, meint Bosco. Teilweise sind die Betroffenen neben dem Schmerz auch von existenziellen Problemen betroffen, wenn sie zum Beispiel die Wohnung alleine nicht mehr finanzieren oder ihren Job aufgrund von psychischer Belastung nicht mehr antreten können.

In Einzel- oder Gruppengesprächen, die parallel sowohl online als auch persönlich jeden zweiten Dienstag um 18 Uhr stattfinden, können die Hilfesuchenden mit den Ehrenamtlichen oder auch untereinander in Kontakt treten. Die Hilfe, die der Verein bietet, kann ganz unterschiedlich sein und wird individuell angepasst. Manchmal hilft schon ein gemeinsamer Spaziergang oder ein Gespräch, bei dem die Gedankenschiff-Mitarbeiter an andere Stellen weiterleiten, Ratschläge geben oder auch Buchempfehlungen aussprechen. Andere Menschen und Familien benötigen eventuell längerfristig Unterstützung, manche sogar über Jahre hinweg. »Das ist auch immer eine Hürde, die überwunden werden muss«, versteht Bosco, schließlich kann es auch schwer sein, sich im Gespräch mit anderen der eigenen Trauer zu stellen. »Deshalb ist es auch immer ein großer Schritt, wenn jemand auf uns zukommt.«

Neben der emotionalen Unterstützung sind die »Alltagshelfer« des Gedankenschiffs auch für die Menschen da, die plötzlich den gesamten Haushalt alleine regeln oder die Wohnung der verstorbenen Mutter ausräumen müssen oder sich in anderen Situationen wiederfinden, in denen auf einmal alles zu viel ist. Wichtig sei dabei »nicht nur, dass man immer über die Trauer redet, sondern auch alltägliche Anforderungen in der veränderten Welt« gemeinsam bewältigt, berichtet Jürgen Jakobs, der auch Mitglied im Bundesverband für Trauerbegleiter ist.

»Wir müssen uns auf die Menschen einstellen, die auf uns zukommen«, stimmt ihm Karen Bosco zu. »Das geht oft in dem privaten Rahmen besser, da sind viele lockerer.« Darüber hinaus dürfe man aber auch seine eigenen Grenzen nicht aus den Augen verlieren. Die Supervisionsgespräche und regelmäßigen Gruppentreffen der ungefähr 20 Vereinsmitglieder seien daher unerlässlich. Genauso wie die Begleiter können auch die Betroffenen von den gemeinsamen Treffen untereinander profitieren. »Da entwickeln sich manchmal ganz spannende Gespräche, die man von außen gar nicht steuern kann«, hat Bosco erfahren. Denn: »obwohl sich Trauer sehr individuell äußert, sitzen doch alle in einem Boot«, beschreibt Jakobs.

Der Verein ist auf Spenden und ehrenamtliche Mitarbeiter angewiesen, die eine Fortbildung in der Alltags-, Sterbe- und Trauerbegleitung für Erwachsene sowie Kinder- und Jugendliche absolviert haben. Die Fortbildung wird vom Verein angeboten und findet an zwei Samstagen statt. Ein besonderer Fokus bei der Ausbildung liegt auf dem Erlernen von Kommunikationsfähigkeiten.

Im Umgang mit Trauernden sei es schließlich essenziell »zu wissen, wann man den Mund halten soll«, bringt es Jakobs auf den Punkt. Auch Möglichkeiten zu Fort- und Weiterbildungen, wie zum Trauerbegleiter oder Kriseninterventionshelfer, werden vereinsintern angeboten.

Bereits jetzt setzt sich das Gedankenschiff-Team aus Menschen mit den verschiedensten Tätigkeitsfeldern zusammen, wobei jeder seine eigene Expertise mitbringt. Dazu zählen beispielsweise Roland als Rettungssanitäter, Beate aus dem Palliative Care, Anette vom Kinderhospizdienst, Melena aus dem Polizeidienst, Matthias als Trauerbegleiter oder Jörg als Seelsorger.

Neben professioneller Hilfe bietet der Verein auch die Vermittlung an bestehende Netzwerke oder Trauer-Cafés.

Das Angebot von Gedankenschiff ist kostenfrei und für alle offen, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Erfahrungsgemäß richten sich besonders Menschen an den Verein, die von der Kirche enttäuscht sind und »die etwas suchen, aber nicht unbedingt das Wort Gottes«, berichtet Jakobs. Eine Mutter, die ihren Sohn durch Suizid verloren hat, glaubt oft nicht mehr an Gott, fügt er hinzu.

Auf dem Gelände der Vitos-Klinik Gießen finden die Gespräche teilweise draußen, oder im »Raum der Stille« statt, auch die Kapelle der Klinik nutzt der Verein für diejenigen, die ihre Kraft doch aus dem Glauben schöpfen. Grundsätzlich sei auch Deutsch sprechen keine Voraussetzung für die Unterstützung durch den Verein, Dolmetscher lassen sich meistens aus dem Bekanntenkreis der Betroffenen finden. So konnten die Ehrenamtlichen beispielsweise auch ukrainische Familien unterstützen, die auf Bildern und Videos im deutschen Fernsehen dabei zusehen mussten, wie ihre Heimat zerstört wurde und Familie und Freunde durch den Krieg ihr Leben lassen mussten.

»Wir bilden uns eigentlich kontinuierlich weiter, jeder hält die Augen auf«, erklärt Jakobs. Die Betroffenen sind den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr dankbar und der Verein hofft, auch vielen andere Menschen in Zeiten, in denen alles verloren scheint, wieder Hoffnung geben zu können.

Gedankenschiff e.V. Gemeinnütziger Verein

Anschrift: i.d. Fachkliniken Vitos Gießen-Marburg, Haus 8/Trauerbegleitung, Licher Straße 106, 35394 Gießen

Tel.: 0641/ 201027-00

E-Mail: welcome@gedanken schiff-eV.de

Internet: www.gedanken schiff-eV.de

Spendenkonto: Volksbank Mitt elhessen eG IBAN: DE98 5139 0000 0080 1818 09; BIC: VBMHDE5F

Auch interessant