Als Gießen seiner Zeit voraus war

Gießen . Dass das Markenzeichen des deutschen Michels die Schlafmütze ist, sagt viel über die bräsige Duldsamkeit, die unserem Volk seit altersher und bis heute eigen ist. Nur selten wachte man hierzulande aus dem Schlaf der Ungerechten auf und rebellierte gegen die gottgegebene Obrigkeit. Eine der seltenen - und am Ende mit Gewalt niedergeschlagenen - Versuche das zu ändern, war die Märzrevolution von 1848, die sich dieser Tage zum 175.
Mal jährt. Und für eine historische Sekunde war Gießen ganz vorne mit dabei und auf der Höhe des Weltgeistes. Genau heute vor 175 Jahren - und damit zwei Tage vor dem eigentlichen Beginn der Märzrevolution in Baden - versammelten sich Gießener Bürger im damaligen Buschischen Garten (und heutigen Steinsgarten), um Pressefreiheit, Volksbewaffnung und die deutsche Republik zu fordern.
Katzbuckelei inspiriert Büchner
15 Jahre früher war im Großherzogtum Hessen die absolutistische Welt noch in Ordnung. Am 26. Dezember 1833 hatte der hessische Erzherzog Ludwig in München die bayerische Prinzessin Mathilde geheiratet. Das wurde auch in der Provinz gefeiert. Am 10. Januar wurde zunächst »durch eine wohlbesetzte Musik auf dem Stadtkirchen-Thurme die Aufmerksamkeit der Einwohner auf des Festes frohe Feier hingelenkt «. Abends um 19 Uhr versammelte sich eine ungewöhnlich große Gesellschaft aus allen Ständen »auf eine höchst einträchtige Weise im Buschischen Garten« . Die Teilnehmerzahl wurde auf bis zu 800 geschätzt (bei einer damaligen Gießener Gesamteinwohnerzahl von 7000), »wodurch sich die unerschütterliche Treue und Anhänglichkeit an das angestammte allverehrte Regentenhaus ( ) beurkundete« .
Der Ball zu Ehren der Fürstenhochzeit wurde vom großherzoglichen Bürgermeister Silbereisen in Anwesenheit weiß gekleideter Mädchen vor einem Altar mit einem Opferfeuer eröffnet. Einem Zeitgenossen ging der ganze byzantinische Zinnober dermaßen auf den Geist, dass er aus ihm Weltliteratur machte. Der Ball im Buschischen Garten diente als Vorlage der Hochzeitsszene in Georg Büchners Lustspiel »Leonce und Lena«. Dort heißt es dann: »Von den zwölf Unschuldigen ist keine, die nicht das horizontale Verhalten dem senkrechten vorzüge. Sie sehen in ihren weißen Kleidchen aus wie erschöpfte Seidenhasen und der Hofpoet grunzt um sie herum wie ein bekümmertes Meerschweinchen.«
Pariser Umsturz elektrisiert Gießen
15 Jahre später ist die Stimmung eine ganz andere. Überliefert hat sie einer der damaligen Protagonisten, Rudolph Fendt, in seinen 1875 erschienenen Lebenserinnerungen. Dort schreibt er: »Die ersten telegraphischen Nachrichten von der Februarrevolution in Paris (...) elektrisierten alles, namentlich selbstredend uns paar radikale Studenten. Ich las die Depeschen dem versammelten Publikum von allen Straßenecken ab, bis ich zuletzt ganz heiser war. (...) Wir sahen in unserem leicht entzündeten Enthusiasmus eine schwarzrotgoldene deutsche Republik (...) und so bitter der spätere Katzenjammer der einbrechenden Reaction und Verfolgung war, so denke ich doch heute noch mit wahrem Entzücken an jenen revolutionären Rausch der Märztage von 1848, wo uns alles möglich, ja nicht unwahrscheinlich war.«
Die vermeintliche Idylle des Biedermeiers, in der sich zumindest der wohlhabende Teil des aufstrebenden Bürgertums zurückziehen konnte, ist 1848 längst verblasst. Die Kluft zwischen den vermögenden, aber von der politischen Macht ausgeschlossenen Bürgern auf der einen Seite und dem überlebten Adel auf der anderen ist genauso groß wie der ökonomische Graben zwischen Bürgern und der nach mehreren Missernten verarmten Landbevölkerung. Die Vernichtung eines großen Teils der Kartoffelernte 1845/46 und zwei aufeinanderfolgende Getreide-Missernten 1847/48 lassen die Preise für Grundnahrungsmittel explodieren. Jedes Jahr kehrt ein Prozent seiner Untertanen dem Großherzogtum Hessen den Rücken. Allein 1846 sind es mehr als 6000, die vor allem nach Amerika auswandern. Der Gießener Anzeiger ist in diesen Jahren voller Anzeigen, in denen Reedereien für die Überfahrt ins »Land der Freien« werben, Fuhrleute eine sichere Passage zu den Auswandererschiffen in Bremerhaven anbieten und Menschen via Kleinanzeige Freunden und Bekannten Lebwohl sagen. Kurz: Es liegt ein Gewitter in der Luft, das sich am 28. Februar erstmals in Gießen entlädt. Der 1837 im Schweizer Exil mit gerade mal 23 Jahren verstorbene Georg Büchner hat es nicht mehr erlebt, aber zwei seiner Brüder sind am 28. Februar dabei:
»Die beiden Brüder Büchner, Louis (eigentlich Ludwig Friedrich) und Alexander sowie einige andre demokratische akademische Gesinnungsgenossen (...) und ich hielten Kriegsrat. Etwas mußte unzweifelhaft geschehen, um der, namentlich in unseren Kreisen, aufs Höchste aufgeregten öffentlichen Meinung irgend einen Ausdruck zu verschaffen. Eine Volksversammlung von Studenten und Bürgern im Busch’schen Garten! hieß es.«
Die radikalen Studenten wollten sich zunächst aber die Unterstützung eines etablierten Akademikers verschaffen, um für gemäßigtere Kreise anschlussfähig zu sein.
»Unser erster Gang war zu Carl Vogt, damals seit Kurzem erst außerordentlicher Professor der Naturwissenschaft, einem Gießener Kinde und anerkanntem Republikaner. Da kamen wir aber gut an. ›Ihr lieben Leutchen‹, antwortete er uns (...): ›Das ist alles recht gut und schön und ich bin ganz mit euch einverstanden, daß wir die Gelegenheit benutzen müssen, so oder so. Aber wer gibt euch denn die Garantie, daß die Sache in Paris auch dauernden Bestand hat? Ich bin herzlich froh, daß ich trotz aller euch wohlbekannten Schikanen endlich einmal, wenn auch nur als Extraordinarius, in meiner Vaterstadt auf den Katheder gekommen bin. Und diese mühsam errungene Stellung sollte ich in diesen zweifelhaften Tagen, wo sich der politische Wind jeden Augenblick drehen kann, ins Blaue hinein riskieren? Ihr seid junge Studenten, denen es auf eine Handvoll nicht ankommet. Stürmt meinetwegen den Himmel und proklamiert die deutsche Republik - von heute auf morgen! Ich bin Professor und habe Rücksichten auf meine amtliche Stellung zu nehmen, die euch Tollköpfen fremd sind.‹«
Der Schankwirt als Präsident
Derlei Pragmatismus kommt bei Fendt freilich gar nicht gut an: »›Hole der Teufel alle Professoren und Advokaten‹ rief ich ergrimmt. ›Da es denn keiner von uns Studenten sein darf, so nehmen wir einen anständigen Philister!‹ Der war bald gefunden in Gestalt eines in Gießen mit Recht sehr populären Bierwirths, Justus Kunz, der (...) auch nicht das geringste Bedenken trug, das ihm angetragene (Präsidenten-) Mandat zu übernehmen. Am Abend des 28. Februar hielten wir denn im Busch’schen Garten unsere ›Volksversammlung‹ mit bestem Erfolge ab.«
Unter »allgemeinem Applaus« stellt man sich hinter einen bereits in Mannheim veröffentlichten Aufruf, in dem es heißt: »Eine gewaltige Revolution hat Frankreich umgestaltet. (...) Ein Gedanke durchzuckt Europa. Das alte System wankt und zerfällt in Trümmer. Aller Orten haben die Völker mit kräftiger Hand die Rechte sich selbst genommen, welche ihre Machthaber ihnen vorenthielten. (...) Das deutsche Volk hat das Recht zu verlangen: Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle Klassen der Gesellschaft, ohne Unterschied der Geburt und des Standes!«
Dann werden vier Kernforderungen formuliert:
»1. Volksbewaffnung mit freien Wahlen der Officiere.
2. Unbedingte Preßfreiheit.
3. Schwurgerichte nach dem Vorbilde Englands.
4. Sofortige Herstellung eines deutschen Parlaments.«
Trotz des lauten Beifalls für diese Forderungen zeigte sich schnell, dass die Interessen der radikaleren Studenten und die des Bürgertums auseinandergingen:
»Ein höchst gemäßigter liberaler Jugendfreund von mir, der jetzige Advokat B. in G., sprang mit dem hessischen Strafgesetzbuche in der Hand, als eine Art improvisiertem freiwilligem Staatsanwalt unter unsre allerdings sehr sanscülottische Gesellschaft und wies juristisch nach, dass unser Vorgehen laut Artikel so und so viel ein entschieden ungesetzlich Revolutionäres sei. Ich lachte ihn aus. (...) Nun trat als stets redefertiger Sprecher der hyperloyalen Minorität Professor Moritz Carrière in den Vordergrund. Ein Mann der breiten, verwässernden selbstgefälligen Phrase, - ›politischer Süßholzraspler› nannte ich ihn damals - wie es nur einen gibt. Er hatte eine höchst schwülstig-langathmige, natürlich sehr devot-unterthänige Adresse aufgesetzt, worin er (...) auch die von uns geforderte Volksbewaffnung nur zum Schutze gegen den drohenden Einfall der Franzosen verlangte. Ganz das alte Geschwätz - wasch’ mir den Rücken und mach’ mich nicht nass!«
Am Ende stehen zwei Petitionen zur Abstimmung Die radikale Partei behauptet an diesem Abend das Terrain, »auch unter Zustimmung der entschiedenen Majorität der anwesenden Bürgerschaft«.
Fendt und die Büchner-Brüder sonnen sich an diesem Abend im Glanze des Sieges. »Alle Pedellen und Polizeidiener, denen wir sonst die verdächtigsten Personen waren, salutierten uns respectvollst und namentlich, die liebenswürdigen Bürgerinnen widmeten uns die huldvollsten Grüße. Gebildete Damen, wenn sie dem Impulse ihrer Herzen folgen, sind durchweg republikanisch. Wir schwammen wie die Fische im Wasser und in den ersten Tagen legten wir uns regelmäßig mit der Hoffnung zu Bette, nächsten Morgens eine Depesche in der Zeitung zu lesen, wonach sämtliche Potentaten Deutschlands nach England durchgebrannt seien.«
Schlafmütze und Pickelhaube
Nun, es ist anders gekommen. In einer Revolution von oben verbündet sich das alte Regime mit dem Bürgertum, und erfüllt dessen Kernforderungen. Eine vollständige Umwälzung wollen beide nicht. Und schon am 31. März titelt der Anzeiger die Forderung der gerade an die Macht gekommenen bürgerlichen Kräfte: »Keine Republik!« Verlieren werden am Ende beide Fraktionen vom Buschischen Garten. Das preußische Militär schlägt die Revolution brutal nieder, die meisten im März gewährten Reformen werden wieder zurückgenommen und der Michel zieht sich wieder die Schlafmütze über die Ohren - bis er 1871 aufwacht, um sie gegen die Pickelhaube einzutauschen.

