Am Schwanenteich »eine Chance vertan«

Das erste Jahr als Oberbürgermeister von Gießen war für Frank-Tilo Becher stark von Krisenmanagement geprägt. Darüber spricht er genauso wie über wichtige Projekte und Kritik aus der Opposition.
Gießen. Corona, Krieg und steigende Preise: Vom ersten Tag an hat sich Frank-Tilo Becher im Krisenmanagement befunden. Und natürlich liege es auch in seiner Verantwortung als Oberbürgermeister, die Stadt gut für Notlagen zu wappnen und die Verwaltung »zukunftsfest« zu machen, betont der 59-Jährige im Interview. Zudem hätten die Bürger gerade auch in den Bereichen Kultur, Wirtschaftsentwicklung und Sport »zu Recht hohe Erwartungen«. Erste wichtige Weichen seien jedenfalls gestellt, aber nicht alles tauche sogleich »im Schaufenster« auf.
Das erste Jahr im Rathaus liegt hinter Ihnen: Inwieweit hat sich in dieser Zeit etwas daran geändert, wie Sie die Stadt wahrnehmen?
Ich habe Gießen in einer ganz neuen Breite von Themen, Orten, Chancen, Problemlagen sowie kreativen engagierten Menschen und Initiativen kennengelernt. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass, wenn ich durch die Stadt gehe, das neue Amt immer mitgeht. Wenn ich mit dem Hund am Schwanenteich unterwegs bin, beschäftigen mich der Dammweg oder die Frage, wie rege der Stangenpark genutzt wird. Wenn eine Fußgängerampel sehr lange rot ist, denke ich: Was ist hier los? Wenn ich über den Weihnachtsmarkt laufe, denke ich: Super, hat alles gut geklappt.
Was hat Sie denn am meisten Kraft gekostet?
Tatsächlich war der Einstieg ins Amt stark geprägt von Krisenmanagement. Meine ersten Entscheidungen galten Corona-Regeln und Testverfahren. Als nächstes folgte gleich die Aufgabe, sich um die Unterbringung der Flüchtlinge aus der Ukraine zu kümmern. Wo findet man abends oder am Wochenende noch Unterkünfte? Und angesichts der Energiekrise sind wir längst sehr gefordert, sozialpolitisch sorgfältig hinzuschauen, wo Notlagen auftreten können. Da sind wir auch aktiv geworden, zum Beispiel bei der Gießener Tafel, mit Unterstützung für Vereine oder dem Härtefallfonds, um Stromsperren zu vermeiden.
Wie würden Sie das Klima in Magistrat und Koalition beschreiben? Harmonisch oder lassen die Grünen Sie spüren, dass sie seit der Kommunalwahl stärkste Fraktion in Gießen sind?
Ich erlebe ein sehr konstruktives Miteinander. Es wurde ja von außen genau beäugt, wie Alexander Wright und ich aus dem Wettbewerb im Wahlkampf zur Zusammenarbeit finden. Jetzt übernehmen wir in dieser Koalition gemeinsam Verantwortung für diese Stadt. Dazu gehört natürlich, sachbezogen auch zu streiten, doch bis jetzt hat das immer zu guten Ergebnissen geführt.
Bisweilen entsteht zumindest der Eindruck, dass sich Alexander Wright als Bürgermeister öffentlich offensiver profiliert. Hätten Sie sich doch für andere Dezernatszuständigkeiten entscheiden sollen?
In meine Zuständigkeiten fallen große Gestaltungsspielräume für diese Stadt, mit denen wichtige Weichenstellungen verbunden sind. In meiner Verantwortung liegt es, die kommunale Verwaltung zukunftsfest aufzustellen, die Stadt gut für Krisen zu wappnen und Gießen digital zu entwickeln. Und die Bürgerinnen und Bürger haben gerade in den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaftsförderung und bei der Gestaltung des sozialen Miteinanders zu Recht hohe Erwartungen.
Bei der Haushaltsdebatte hat Ihnen die Opposition vorgeworfen, Sie würden nur Grußworte sprechen und Hände schütteln
Haushaltsdebatten werden stets für große Abrechnungen genutzt, das hat mich nicht überrascht. Außerdem sollte man die Bedeutung von guten Grußworten nicht unterschätzen. Überrascht hat mich aber die Kritik, ich würde nicht auf die Opposition zugehen, obwohl ich jemand bin, der sie bei vielen Gelegenheiten zum Austausch eingeladen hat. Da sage ich: Hier hat wohl die Freude an Polemik überwogen.
Wo ist denn Ihre Handschrift schon deutlich geworden?
Wir haben zum Beispiel in einem breiten Konsens den »Runden Tisch gegen Antisemitismus« gestartet, das steht für einen Politikstil, der mir wichtig ist - dass wir uns nämlich auch externe Beratung hinzuholen. Die Vorbereitungen für den Kultur- und Gewerbehof schreiten ebenfalls intensiv voran. Das wird ein richtig großes Markenzeichen für Gießen. Und wir stehen unmittelbar vor der Beauftragung eines Sportstättenentwicklungsplans.
Mit welchem Ziel?
Mit externer Expertise soll eine Aufstellung gemacht werden, über welche Sportflächen wir verfügen, welche Bedarfe die Vereine haben und wo Synergien möglich sind. Bei der Bestandsaufnahme geht es erst einmal um die »ungedeckten Sportstätten«. Damit soll dem Wunsch nach Sport im Freien, der zunehmend wächst, Rechnung getragen werden.
Gleichwohl verstummt die Kritik nicht, dass Gießen von einer Sportstadt noch sehr weit entfernt sei. Halten Sie das für berechtigt?
Das Wort »Sportstadt« ist da eher hinderlich, das ist ein Label. Wenn man schaut, was wir in der Breite für eine Vereinslandschaft haben mit unterschiedlichen Sportarten - und was sich im öffentlichen Raum an Sportangeboten entwickelt, glaube ich nicht, dass wir uns verstecken müssen. Trotzdem wollen wir besser werden.
Ein Thema, das damit zusammenhängt, ist nach wie vor die ungeklärte Zukunft der Osthalle. Oder ist das nach dem Abstieg der 46ers in der Prioritätenliste wieder nach hinten gerutscht?
Nein, es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Wir sind in Gesprächen mit den 46ers. Wir müssen uns anschauen, wie weit die Entwicklungsmöglichkeiten in der Osthalle reichen, was die Auswertung der Machbarkeitsstudie für eine Ballsporthalle ergibt, welche Anforderungen die Basketball-Bundesliga stellt und wie die Resonanz bei Unterstützern und Sponsoren ist. Das mündet in die Frage: Wie und wo haben die 46ers zukünftig einen geeigneten Spielort? In 2023 werden wir da eine Weichenstellung vornehmen.
Auf welche Projekte haben Sie noch den Fokus gelegt?
Von zentraler Bedeutung für die Zukunft unserer Stadt ist der Bereich Personalgewinnung, Personalentwicklung, Ausbildung und Arbeitsorganisation. Man muss sich nur mal bewusstmachen, dass allein in meiner laufenden Amtszeit circa 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus demografischen Gründen aus der Stadtverwaltung ausscheiden. Wenn wir hier handlungsfähig bleiben wollen, müssen wir einen deutlichen Schwerpunkt darauf richten, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Was sich auch eher im Hintergrund vollzieht, ist die Aufgabe, die Verwaltung weiter zu digitalisieren. Das ist auch ein wichtiger Teil in meiner »Smart City«-Strategie.
Welche Vorteile bringt das für die Bürger?
Es geht darum, kommunale Infrastrukturen zu verknüpfen und die digitale Vernetzung der Stadtgesellschaft untereinander zu befördern: Welche Informationen werden benötigt, welche Veranstaltungen gibt es, wo finde ich im Sommer kühle Orte oder Parkplätze - all das sind Dinge, die sich die Menschen inzwischen auf digitalem Weg erschließen wollen. Deshalb müssen wir genau analysieren, in welcher Form Daten bereits angeboten werden und welche Plattformen es zusätzlich braucht.
Welche Fortschritte haben Sie erzielt, um Gießen zur »gesunden Stadt« zu machen?
Das Motiv der »gesunden Stadt« ist wie ein roter Faden, hier kann viel andocken. Die Verkehrswende zählt dazu, auch die Tatsache, dass wir Gastgeber für eine Delegation von der Elfenbeinküste im Vorfeld der »Special Olympics World Games« sein werden. Damit können wir dazu beitragen, die Inklusion im Sport voranzubringen. Teil einer Gesundheitsstadt ist ferner die Krankenhauslandschaft. Deshalb freut es mich, dass sich fürs Uniklinikum am Horizont Lösungen abzeichnen. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass wieder ernsthaft miteinander gesprochen wird. Und ich habe mit den »Wirtschaftsgesprächen« ein neues Format initiiert, das auch für den Gesundheitsbereich viel Potenzial hat. In den nächsten Jahren kommen stetig mehr Perlen auf diese Kette.
Mit dem Verkehrsversuch steht ein Mammutprojekt an. Wie stark ist noch der Gegenwind?
Ich nehme wahr, dass die Zustimmung wächst. Wenn man einen Blick über den Tellerrand wirft, widmen sich zurzeit ja viele Städte der Frage, wie die Verkehrswende gelingen kann. Zugleich erfährt unser Verkehrsversuch in der Fachpresse beachtliche Resonanz. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Nachhaltigkeit und Aufenthaltsqualität für die Innenstädte an Bedeutung gewinnen und dass man dafür auch mal etwas ausprobieren muss. Und ich vertraue darauf, dass wir im Ergebnis Vorreiter für eine Entwicklung sein werden, die sich andere abgucken.
Hat der Magistrat auch Abbruchkriterien definiert, sollte nicht alles so klappen wie erhofft?
Sie können sicher sein, dass wir das sorgfältig beobachten und laufend auswerten. Mir ist bewusst, dass die Zugänglichkeit von Gießen ein Faktor ist, der eine zentrale Rolle spielt, aber das scheint mir solide mitgedacht zu sein.
Geradezu erwartbar war der Streit um die Sanierung des Dammweges am Schwanenteich. Haben Sie ernsthaft damit gerechnet, dass das ohne Protest bleibt, wenn man Pläne, die bereits vor zehn Jahren abgelehnt wurden, wieder aus der Schublade holt?
Ich habe gehofft, dass sich die von mir sehr klar favorisierte technische Lösung, bei der nur einseitig die Bäume auf dem Damm gefällt worden wären, als konsensfähig erweist. Wir stecken jetzt in einer Situation der Ratlosigkeit fest. Zuspitzungen sind sicher sinnvoll, um Positionen zu klären. Aber man muss dann ein gutes Gespür für den konstruktiven Kompromiss haben, der allen hilft. Aus meiner Sicht ist eine Chance vertan worden.
Stichwort Bürgerbeteiligung: Die gleichnamige Satzung entspricht in wesentlichen Punkten nicht geltendem Recht, urteilte der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Januar. Von der angekündigten Überarbeitung war länger nichts zu hören. Ist das heimlich begraben worden?
Überhaupt nicht. Die Juristerei ist oft sehr komplex. Wir haben über Wochen und Monate extrem gründlich daran gearbeitet und werden vermutlich im Februar einen neuen Entwurf vorlegen. Wir sind überzeugt, dass wir die entscheidenden Vorbehalte ausgeräumt haben. Und gerade vor dem Hintergrund der Debatte um den Schwanenteich wird doch deutlich, wie sehr wir abgestufte Beteiligungsformen brauchen, um Meinungen einzuholen und uns miteinander zu beraten, die sich aber unterhalb eines Bürgerbegehrens bewegen.
»Ich teile Ihre Wut und Ihre Betroffenheit - und deshalb stehe ich heute hier als Ihr Oberbürgermeister.« Das haben Sie den Menschen zugerufen, die gegen das Regime im Iran protestierten. Warum haben Sie bei der gegen die eritreische Regierung gerichteten Kundgebung auf einen solchen Auftritt verzichtet?
Veranstaltungen haben immer einen Kontext. Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass das, was in Eritrea geschieht, scharf zu verurteilen ist. Aber hier ging es um eine Situation, in der ein Konflikt angeheizt zu werden drohte, der in unserer Stadtgesellschaft ausgetragen wurde, seine Ursachen aber woanders hat. Mir erschien es richtiger, erstmal Ruhe reinzubringen. Zugleich bin ich froh, dass der Ausländerbeirat sich um eine vermittelnde Rolle bemühen möchte.
Es klingt auch nicht unbedingt schmeichelhaft, wenn die taz schreibt, Gießen entwickele sich immer mehr »zum Wallfahrtsort für Anhänger der eritreischen Diktatur«
Als Stadt haben wir keinen Einfluss, wer bei der Messe Flächen anmietet. Wir können nur das Gespräch suchen. Das habe ich im Nachgang zur Waffenmesse getan und dabei betont, dass wir selbstverständlich um die unternehmerische Freiheit wissen, uns aber auch sorgen, dass ein Imageschaden sowohl für die Stadt, als auch den Messestandort entsteht.
Und inwieweit sind Sie da auf einen gemeinsamen Nenner gekommen?
Wir haben uns zugehört, haben Einigkeit, das Nazi-Devotionalien hier nichts zu suchen haben, und trotzdem gibt es eben auch unterschiedliche Interessenlagen. Da werden wir abwarten müssen, was die Zukunft bringt.
Wir alle haben 2022 viel Negatives erlebt. Was ist Ihnen an Positivem besonders in Erinnerung geblieben?
Das ist vor allem das unglaublich große ehrenamtliche Engagement von vielen Bürgerinnen und Bürgern, die sich anderen Menschen zugewandt und sich sehr für deren Belange eingesetzt haben - sei es mit Wohnungsangeboten für Ukrainerinnen und Ukrainer, bei der Organisation von Benefizkonzerten oder der »Tour der Hoffnung«. Diese Begeisterung für das Gemeinwohl wird uns auch weiterhin guttun.