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An Silvester ging es steil nach oben

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Von: Frank-Oliver Docter

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Die Abgase der Fahrzeuge, vor allem von Dieselautos, machen den größten Anteil aus. Symbolfoto: Patrick Pleul/dpa © Red

Zum Jahreswechsel wurde in Gießen geböllert, was das Zeug hält. Das belegen die Feinstaub- und NO2-Werte für 2022, die nun vorliegen

Gießen . Wie schnell doch die Zeit verrinnt. Der Jahreswechsel ist nun schon wieder über sechs Wochen her. Die Feuerwerks-Hersteller dürften sich aber auch heute noch die Hände reiben aufgrund des rekordverdächtigen Umsatzes, den sie im Dezember machten. Nach zwei Jahren Verkaufsverbot wegen der Corona-Pandemie wurde diesmal rund um Silvester geböllert, was das Zeug hält. Dies belegen auch die jetzt für Gießen zu Luftschadstoffen bekannt gegebenen vorläufigen, aber bereits sehr aussagekräftigen Messdaten des Hessischen Landesamts für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG). Demnach wurde in der ersten Stunde nach Mitternacht für Feinstaub-Partikel mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometer (PM2,5), die bis in die Lungenbläschen (Alveolen) gelangen und gesundheitsgefährdend sein können, ein Wert von 53 Mikrogramm pro Kubikmeter ermittelt.

Bei der Feinstaub-Kategorie PM10 - hier sind die gemessenen Partikel weniger als zehn Mikrometer »groß« - waren es sogar knapp 70 Mikrogramm pro Kubikmeter. Zum Vergleich: Die Jahresmittelwerte 2022 liegen für Gießen bei 9,8 (PM2,5) beziehungsweise 15,8 (PM10), 2021 waren es 10,5 und 15,7, bei geltenden Grenzwerten von 25 und 40. Zu einer Überschreitung des Tagesmittelwerts von 50 kam es 2022 nur einmal, erlaubt wäre das bis zu 35 Mal, bevor Fahrverbote für Kraftfahrzeuge mit höherem Schadstoffausstoß folgen könnten.

»Gute Entwicklung«

Trotz dieser für den Laien enorm erscheinenden Silvester-Ausschläge nach oben gibt Diplom-Meteorologin Dr. Diana Rose im Gespräch mit dem Anzeiger Entwarnung. »Es gab in Hessen zum Jahreswechsel auch Orte mit Feinstaubwerten von über 1000 Mikrogramm pro Kubikmeter in der ersten Stunde nach Mitternacht«, berichtet die Leiterin des HLNUG-Dezernats für Luftreinhaltung. Die Werte hingen nicht zuletzt davon ab, wie nah die Böller und Raketen den Messstationen des Landesamts kommen, von denen die eine in Gießen an der vielbefahrenen Kreuzung Westanlage/Bahnhofstraße steht.

Diesen Ort hat man nicht von ungefähr ausgesucht. »Die Bebauung ist mit entscheidend, wie die Schadstoffe sich in der Luft ausbreiten«, erklärt Diana Rose. Und hier in der Westanlage reiht sich ein hohes Haus an das andere, während beispielsweise der noch stärker von Verkehr frequentierte Berliner Platz »deutlich offener ist«, wodurch Schadstoffe leichter abziehen können und sich daher nicht so sehr konzentrieren.

Bei Stickstoffdioxid (NO2), das vor allem bei Verbrennungsprozessen, hier vor allem von Dieselautos, erzeugt wird, registrierte man an der Messstation für das vergangene Jahr den Mittelwert von 30,4 Mikrogramm pro Kubikmeter, nach 31,9 im Jahr davor. Der Grenzwert liegt bei 40. Wie bei Feinstaub, der zu einem Großteil auch durch Reifenabrieb entsteht, sieht Diana Rose hier »eine gute Entwicklung«, nachdem Gießen bis zum Jahr 2018 stets über dem NO2-Grenzwert gelegen hatte. Seitdem ging es Schritt für Schritt nach unten. Im Vergleich zu anderen hessischen Städten liege man »ziemlich in der Mitte«.

Die Wissenschaftlerin bewertet die Messdaten auch deshalb als erfreulich, weil es zu einem weiteren Rückgang kam, obwohl 2022 der Verkehr gegenüber 2021 und den Lockdown-Phasen wieder deutlich zugenommen habe. Andererseits würden die Daten »auch immer meteorologisch beeinflusst«. Sei es nun durch bestimmte Wetterlagen, Wind oder Regen, der gerade Feinstaubpartikel sozusagen aus der Luft auf den Erdboden holt. 2022 war allerdings ein ziemlich trockenes Jahr.

Neben der Messstation in der Westanlage betreibt das Landesamt auch noch einen sogenannten Passivsammler in der Johannette-Lein-Gasse. Dieser zeichnet allerdings nur Daten für Stickstoffdioxid auf und steht im Gegensatz zur Messstation »im städtischen Hintergrund«, also an einer vom Verkehr nicht ganz so stark frequentierten Stelle am Rande der Innenstadt. Hier zeigt sich für NO2 für das vergangene Jahr ein Wert von 17,8 nach 20,9 Mikrogramm pro Kubikmeter in 2021.

Der positiven Entwicklung der Gießener Feinstaub- und Stickstoffdioxid-Werte könnte jedoch schon bald ein abruptes Ende drohen. Denn voraussichtlich im kommenden Juni startet auf dem Anlagenring ein großangelegter Verkehrsversuch, bei dem nur noch die beiden äußeren Fahrspuren für den Autoverkehr vorgesehen sind, während die inneren den Radfahrern vorbehalten sein werden. Gegner des Versuches warnen, dass es dadurch zu mehr Staus auf dem Anlagenring bis in die zu- und abführenden Seitenstraßen hinein kommen könnte. Aus Sicht der Meteorologin sollte der Verkehrsversuch »messtechnisch begleitet werden«, um festzustellen, ob mehr Luftschadstoffe entstehen.

Verschärfung droht

Darüber hinaus gibt es bei der Europäischen Union (EU) Überlegungen, die Feinstaub-Grenzwerte deutlich zu verschärfen. Sollte die neue Richtlinie verabschiedet werden, würde ab 2030 der Jahresdurchschnitt bei PM10 nur noch 20 statt bislang 40 Mikrogramm pro Kubikmeter betragen dürfen. Laut Diana Rose wolle man damit dem Richtwert der Weltgesundheitsorganisation (WHO) näherkommen, der für den Jahresdurchschnitt auf zehn Mikrogramm heruntergesetzt wurde. Die WHO-Empfehlungen beruhen auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur gesundheitlichen Wirkung von Luftschadstoffen und wurden zuletzt 2021 aktualisiert. »Es ist aber nicht sicher, ob der Entwurf der Richtlinie tatsächlich so umgesetzt wird«, meint sie. Andererseits gilt der EU-Grenzwert seit 2010 und basiert auf WHO-Vorgaben von vor mehr als 20 Jahren, eine Angleichung scheint also eigentlich überfällig. Bei PM2,5 könnte der Wert künftig von 25 auf 10 Mikrogramm pro Kubikmeter gesenkt werden - die WHO empfiehlt sogar »nur« 5. Aber auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Sollte sich die Entwicklung in Gießen so fortsetzen wie bisher, könnte es bis 2030 gelingen, die dann womöglich geltenden neuen Grenzwerte »gerade so einzuhalten«, meint Diana Rose. Aktuell jedenfalls stehe die Lahnstadt bei NO2 und Feinstaub im Vergleich zu anderen Städten »ganz gut da«.

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