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Ankommen, bleiben und gestalten

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Von: Rüdiger Schäfer

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Ein prägendes Gesicht des Flussstraßenviertels: Vincenzo Giorgio. Foto: Christoforos »Rossi« Mechanezidis © Christoforos »Rossi« Mechanezidis

Die Ausstellung »Mein Leben im Fluss« porträtiert zehn Menschen aus dem Flussstraßenviertel in Gießen. Die Fotos stammen von Rossi Mechanezidis. Anlass ist der »Tag der Migration«.

Gießen. Leben nicht weit vom Fluss? Leben im Flussstraßenviertel? Oder allgemein ein Leben im Fluss? Die nun im Atrium des Rathauses eröffnete Fotos jedenfalls trägt den Titel »Mein Leben im Fluss - Ankommen, Gehen, Bleiben und Gestalten im Gießener Flussstraßenviertel«. Zehn großformatige Porträts von Bewohnerinnen und Bewohnern des Quartiers sind dort bis 24. Januar während der Öffnungszeiten zu sehen, fotografiert hat sie Christoforos »Rossi« Mechanezidis.

Der 18. Dezember wurde von der Vollversammlung der Vereinten Nationen zum »Tag der Migration« erklärt. Auch in Gießen leben Menschen mit über 150 Nationalitäten. Das Büro für Integration und die Stabstelle Soziale Stadterneuerung zeichnen in Kooperation mit dem Ausländerbeirat für die Organisation der Ausstellung mit Porträts von Migrantinnen und Migranten verantwortlich.

Seit zehn Jahren würdigt die Stadt den »Internationalen Tag der Migration«. Dabei sei es häufig um aktuelle Migrationsbewegungen und um Fragen der aktuellen Zuwanderung gegangen, erinnerte Stadträtin Astrid Eibelshäuser. Und fügte hinzu: »Heute wollen wir unseren Blick auf eine Personengruppe richten, die seit sehr langer Zeit in Gießen lebt und im Zuge der Arbeitsmigration, im Zuge von sogenannten Anwerbeabkommen in den 1960er und 1970er Jahren aus Italien, der Türkei, aus Griechenland Jugoslawien, Spanien und Portugal nach Deutschland und nach Gießen gekommen ist und hier längst eine neue Heimat gefunden hat.« Dieser Teil der Migrationsgeschichte habe Deutschland und Gießen maßgeblich verändert.

Ende der 1950er Jahre seien in Gießen die ersten italienischen »Gastarbeiter« angekommen, ab 1961 waren sie als Hilfsarbeiter bei den Firmen Poppe (Gummi), Bänninger (Rohrverbindungen) und Rumpf (Schuhe) tätig. Die Frauen wiederum kamen im Hotel- und Gaststättengewerbe zum Einsatz. Mitte der 1960er habe die lokale Baubranche nachgezogen und vermehrt ausländische Arbeitskräfte eingestellt. »In der Stadt selbst lag der Anteil ausländischer Mitbürger damals bei 2,9 Prozent, bis 1974 kletterte er auf 7,2 Prozent.«

Zweifel und Zufälle

Wie andernorts habe deren Unterbringung eine Herausforderung bedeutet, zumal Wohnungsnot herrschte. In der Folge bauten Unternehmen auf ihrem Betriebsgelände Wohnheime mit Mehrbettzimmern - »Politik und Verwaltung kam das gelegen«. Die Wohnverhältnisse seien für Familien trotzdem nicht bequem gewesen, sodass bald günstiger Wohnraum gesucht worden sei.

Alle porträtierten Bewohner des Flussstraßenviertels, die an vielen Orten in der Stadt anzutreffen seien, blickten zurück auf ein Leben, in denen es Brüche gegeben habe - auf Zweifel, Zufälle und Entscheidungen, die sie nicht selbst getroffen hätten. Ebenso auf Pläne und Träume, die sich erfüllten oder auch nicht. Die bildlichen Erzählungen ließen teilhaben an Lebensläufen und Situationen, »auf die sich immer wieder neu eingestellt werden musste«. Eibelshäuser sprach von einem »Pendeln zwischen verschiedenen Welten«.

Italienische Eiscafés, griechische Restaurants, türkische Lebensmittelläden, Moscheen, Kulturvereine, Musikgruppen, vielfältige Fußballvereine gehörten heutzutage wie selbstverständlich zum Gesicht der Stadt. Aber auch Lehrer, Ärzte, Politiker und Verwaltungsangestellte, »bei denen vielleicht gerade noch der Name an eine türkische, griechische oder italienische Familienvergangenheit erinnert«.

Alle Porträtierten haben eines gemeinsam: die Verbindung zum Flussstraßenviertel. Dieses Quartier ist seit zehn Jahren im Förderprogramm »Sozialer Zusammenhalt«. In diesem Zusammenhang wurde 2019 ein Sozialmonitoring erstellt: Demnach leben dort im Verhältnis zur übrigen Stadt doppelt so viele Menschen mit ausländischen Pass. Es sind mehr als ein Drittel. Gleichzeitig fällt auf, dass die Bevölkerung viel älter ist. Dies bedeute, so die Stadträtin, dass im Flussstraßenviertel überdurchschnittlich viele Menschen wohnen, »die vor vielen Jahrzehnten nach Gießen zugewandert sind, um hier zu arbeiten und zu bleiben«.

Ekatherina Doulia berichtete von den Interviews, die sie mit den Porträtierten geführt hatte. Lukas Morawietz von der Koordinierungsstelle »Soziale Stadterneuerung« bezeichnete das Quartier als »innenstadtnah, sehr grün, mit bester Anbindung an den ÖPNV - über den baulichen Zustand reden wir mal eben nicht«. Natallia Knöbl vom Ausländerbeirat appellierte, allen eine soziale Teilhabe zu ermöglichen und sich »mit Toleranz zu begegnen, nicht nebeneinander, sondern miteinander zu leben«. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung mit Baglama-Musik des Alevitischen Kulturvereins aus der Nordstadt.

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