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»Arm sein heißt nicht faul sein«

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Von: Eva Pfeiffer

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Das Diakonische Werk Gießen wird künftig von Sigrid Unglaub geführt. Holger Claes geht in den Ruhestand. Fotos: Pfeiffer/Lemper © Pfeiffer/Lemper

Vier Jahrzehnte Hilfe für Menschen: Holger Claes, Leiter des Diakonischen Werks Gießen, geht in den Ruhestand

Gießen . Nach vier Jahrzehnten ist Schluss: Holger Claes geht in den Ruhestand. 1982 begann er als Sozialarbeiter beim Diakonischen Werk, vor 23 Jahren wurde er dessen Leiter. Am kommenden Montag wird er offiziell verabschiedet. Im Interview spricht er über die Zeit danach, kommende Aufgaben für die Schuldnerberatung und was er sich für die Zukunft wünscht.

Wie geht es Ihnen jetzt, so kurz vor dem Ruhestand?

Ich bin voller Vorfreude darauf, dass ich, so Gott will, gesund den Ruhestand beginnen kann und loslassen darf - und voller Spannung auf das, was kommen wird. Ich habe eine Nachfolgerin, bei der ich sehr froh bin, dass sie ausgewählt wurde.

Warum haben Sie sich damals für die Sozialarbeit entschieden?

Ich war schon in jungen Jahren jemand, zu dem Bekannte hingekommen sind und um Rat gefragt haben. Ich habe mich immer schon für andere Menschen eingesetzt und das mündete schließlich darin, dass ich Sozialwesen zunächst in Kassel studiert habe und später nach Frankfurt gewechselt bin.

Sie haben beim Diakonischen Werk auch die Schuldnerberatung aufgebaut. Gab es damals einen konkreten Anlass dafür?

Zu Beginn meiner Arbeit beim Diakonischen Werk war ich in der Straffälligenhilfe tätig. Dabei habe ich festgestellt: Egal, wer in der JVA einsaß: Alle Inhaftierten sind mit Schulden rausgegangen. Und wenn wir das nicht angepackt und eine vernünftige Ratenzahlung vereinbart haben, dann hatten sie niemals eine Chance. Beim genaueren Hinsehen habe ich festgestellt, dass das Problem schon damals in breiteren Bevölkerungskreisen bestand. Es war die Zeit der Hochzinsphase, was für Bauherren sehr schwierig war. Es war, als hätte man in ein Nest gestochen, so viele Leute kamen anschließend zu uns. Es war unglaublich.

Bei immer mehr Menschen wird das Geld knapp, auch die Mittelschicht sorgt sich angesichts steigender Preise. Was bedeutet das für die Schuldnerberatung?

Gerade bei den steigenden Energiekosten wissen viele Haushalte nicht, wie sie das bezahlen sollen, wenn der Staat nicht entsprechende Unterstützungsmaßnahmen bereit hält. Das wird eine Katastrophe auf vielen Ebenen geben. Für die Schuldnerberatung bedeutet es, dass viel Arbeit auf sie zukommt. Eine Schuldnerberatung ist aber so zeitintensiv, dass man nicht einfach zehn Fälle mehr machen kann pro Berater. Daher benötigt es zwangsläufig einen weiteren Stellenausbau. Wir sind hier in Gießen mit Diakonie und Caritas gut aufgestellt - gleichzeitig gibt es auch eine mehrmonatige Wartezeit, bis man eine gute und zeitaufwendige Beratung bekommt.

Auch die Tafel, deren Leiter Sie waren, erlebt derzeit einen deutlichen Ansturm.

Die Tafeln in Gießen wie auch in Grünberg und Hungen wurde damals als Folge der Hartz-IV-Reformen gegründet. Wir haben ein breites Spektrum an Geschäften, die wir anfahren. Aber das wird nicht mehr werden. Die Geschäfte bemühen sich, ihre eigene Disposition besser zu gestalten und gleichzeitig bedeutet das, dass nicht mehr ganz so viel übrig bleibt für andere. Aufgrund unserer vielen Beziehungen, die wir haben, können wir immer noch eine gute Hilfe bieten - auch wenn wir die Kisten vielleicht nicht mehr ganz so vollpacken können.

Macht Ihnen das Sorgen?

Wir versorgen derzeit allein in Gießen rund 4000 Menschen, im vergangenen Jahr waren es noch 3000. Es gibt also einen riesigen Ansturm. Aber um die Gießener Tafel ist es mir nicht bange. Ich bin froh und dankbar, dass Anna Conrad mit meinem Abschied die Leitung übertragen bekommen hat. Sie ist vom ersten Tag an dabei und brennt genauso für diese Arbeit wie ich. Aber das Finanzielle ist immer ein Problem. Wir haben das Glück, dass Stadt und Landkreis uns mit der Miete unterstützen wollen. Aber das große Potenzial sind unsere Ehrenamtlichen. Wir haben über 300 Menschen, die Woche für Woche helfen. So lange es sie gibt, ist es mir um die Tafelarbeit und unsere Gesellschaft nicht bange.

Wie hat sich Arbeit in Ihren vier Jahrzehnten beim Diakonischen Werk verändert?

Es ist schnelllebiger geworden, insbesondere in den 23 Jahren als Leiter. Der wirtschaftliche Druck ist viel größer geworden - wobei wir das Glück haben, mit Stadt und Landkreis in vielen Bereichen Verträge zu haben, die uns helfen, die Arbeit abzusichern. Man darf aber nicht vergessen: Wenn Stadt oder Landkreis einen Vertrag kündigen, haben wir immer noch die Arbeitskräfte, deren Verträge weiterlaufen und finanziert werden müssen. Wir sind auch viel größer geworden. Derzeit sind bei uns etwa 110 Mitarbeitende beschäftigt, mit der neuen Kita werden wir im kommenden Jahr über 120 Mitarbeitende sein. Hinzu kommen über 700 Ehrenamtliche. Als ich angefangen habe, waren wir etwas über 50 Mitarbeitende und 40 Ehrenamtliche. Das sind heute ganz andere Dimensionen.

Ist Ihnen der Wechsel zum Leiter schwergefallen?

Ich war bereits seit 1986 stellvertretender Leiter und daher schon immer eng einbezogen in die internen Leitungsprozesse. Aber natürlich war das eine völlige Umstellung: Man ist permanent gefordert, muss Verträge unterzeichnen. Aber man sollte eher fragen, wie es den Kolleginnen und Kollegen damals ging - denn da ist einer aus ihrer Mitte plötzlich Chef geworden. Das war für viele nicht so ganz einfach, aber wir haben es gut gestemmt. Fast alle, die heute hier arbeiten, habe ich eingestellt. Wir haben das große Glück, viele gute Fachkräfte zu haben.

Was wird Ihnen fehlen?

Das kann ich so noch gar nicht beantworten. Ich habe mit tollen Menschen zusammengearbeitet, sowohl im Hauptberuflichen als auch im Ehrenamt, aber auch in den Kontakten nach draußen. Dabei sind viele freundschaftliche Beziehungen entstanden. Diese Kontakte werde ich vermutlich als erstes vermissen. Es wird auch der Zeitpunkt kommen, dass man sich fragt: Dir erzählt ja keiner mehr was, du bist nicht mehr eingebunden in Entscheidungsprozesse. Das wird mir sicherlich auch fehlen. Meine Frau und ich haben das große Glück, einen Enkel zu haben, der auch gerne mit Oma und Opa zusammen ist. Mit ihm bin ich immer auf Entdeckungsreise nach neuen Dingen und an Aufgaben wird es mir wahrscheinlich nicht mangeln.

Wollen Sie weiter ehrenamtlich aktiv bleiben?

Erstmal heißt es runterfahren. Schauen, dass man mal über etwas anderes träumt und sich erholt. Danach werde ich sehen, was ich mache. Aber ehrenamtliches Tun, das darf man von mir schon erwarten.

Haben Sie Tipps für Ihre Nachfolgerin?

Wir haben im Diakonischen Werk Gießen das Glück, dass wir sieben Wochen zusammen waren, wenn ich ausscheide und sie mit mir Einblick nehmen konnte, Menschen vor Ort konnte sie bereits kennenlernen. Sigrid Unglaub ist eine hochqualifizierte Kollegin und hat einen sehr klaren Blick für die Situation. Ich glaube, dass sie es nicht nötig hat, dass man ihr Tipps gibt. Aber man braucht Konstanz, Durchhaltevermögen und soll sich einbringen. Und das ist das Gute, dass man sich in dieser Region auch einbringen darf. Ich konnte immer mit Verantwortlichen über Bedarfe reden und wir haben Lösungen gefunden. Ich bin mir sicher, das wird Frau Unglaub sehr gut ausfüllen.

Stichwort Bedarfe: Was braucht die Diakonie für die nächsten fünf Jahre, um gut aufgestellt zu sein?

Einige Sachen sind noch nicht 100-prozentig geklärt, wie die Wohnungsnotfallhilfe. Es dauert noch einige Zeit, bis die »Brücke« neue Räume hat, da ist noch viel zu tun. Und auch wir werden zukünftig Teil der Kirchenkürzungen werden. Eine gute vertragliche Absicherung für die Arbeitsfelder ist wichtig, damit wir nicht von Jahr zu Jahr Anträge stellen und hoffen müssen, dass sie genehmigt werden. In den Verhandlungen mit Stadt und Landkreis haben wir zum Glück Regelungen gefunden, dass auch die Gehaltssteigerungen berücksichtigt werden. Die finanzielle Absicherung ist sehr wichtig. Dabei geht es nicht darum, dass das Diakonische Werk etwas verdient - sondern dass diejenigen, die sich um andere kümmern, in klaren Arbeitsbedingungen - und dazu zählt ein ausreichendes Tarifgehalt - gut arbeiten können.

Was ist Ihnen für die Zukunft wichtig?

Ich möchte gerne, dass es den Menschen, egal, wo sie herkommen, was sie mitbringen, was sie getan haben, welche Sozialisation sie erlebt haben, etwas besser geht. Ich finde die Diskussion um das Bürgergeld ganz schwierig. Was jetzt gemacht wird, ist ein politisches Handeln, bei dem man verkennt, wie viele Menschen davon betroffen sind und diese in den öffentlichen Redebeiträgen stigmatisiert. Arm sein heißt nicht faul sein. Die fiktiven Rechenbeispiele in der Diskussion stimmen häufig überhaupt nicht. Es ist aber genauso richtig, dass sich Arbeit lohnen muss. Der Abstand zwischen Mindestlohn und Sozialleistungen muss größer werden. Außerdem sollte in unserer Gesellschaft intensiv an Bildung gearbeitet werden. Was wir an sprachlichen Problemen in den Kitas erleben, das ist ein Wahnsinn. Diese Kinder kommen in die Schule und müssen dort erstmal Deutsch lernen. Insgesamt hoffe ich, dass die Gesellschaft akzeptiert, dass es Menschen gibt, die unverschuldet in Not geraten sind und daraus den Schluss zieht, dass die Hilfe für in Armut lebende Familien und Einzelpersonen dringend vorrangig betrieben werden muss.

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giloka_2611_claesneu_ebp_4c_1 © Benjamin Lemper

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