Armut, Diskriminierung, Machtgefälle

Die aktuelle Spielzeit des Gießener Stadttheaters bietet hat eine ganze Menge neuer Formate. Eins davon sind die »Salongespräche« im ehemaligen Malsaal.
Gießen (bcz). Die aktuelle Spielzeit des Gießener Stadttheaters bietet hat eine ganze Menge neuer Formate. Eins davon sind die »Salongespräche« im ehemaligen Malsaal, der sich zu einem multifunktionalen Raum für Gespräche, Exkurse und Experimente entwickeln soll. Im Fokus der Reihe steht der Dialog zwischen Autoren, Wissenschaftlern, Künstlern und dem Publikum zu gesellschaftsrelevanten Themen. Nun sprach Schauspieldramaturg Tim Kahn mit der Berlinerin Francis Seeck über ihr Buch »Zugang verwehrt - Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus Ungleichheit fördert«.
Die promovierte Kulturanthropologin beschäftigt sich seit Längerem mit dem Begriff »Klassismus« (siehe Kasten) und hat ihre Thesen in dem 2022 erschienen Buch zusammengefasst. Die 35-Jährige verarbeitet darin auch persönliche Erfahrungen mit dem Thema, das sie seit ihrer Kindheit beschäftigt. So erzählt sie, dass ihre Mutter zwar Akademikerin und dennoch auf Transferleistungen angewiesen war. Ein Beispiel dafür, dass Hartz-IV-Empfänger eben nicht - wie häufig dargestellt - arm, faul und arbeitsscheu seien. Obwohl sie in Kreuzberg aufwuchs und einen alternativen Kinderladen besuchte, habe sie damals schon soziale Abwertung erfahren, ohne dass sie dafür die passende Bezeichnung gehabt habe, berichtete Francis Seeck. Ein Schulkamerad, der sie einmal zuhause besuchte, habe zu ihr gesagt: »Hier sieht es ja aus wie im Kohlenkeller.«
Die Hauptthesen ihres Buchs: »Wir leben in einer Klassengesellschaft« und »Klassismus als Ideologie dient dazu, vorhandene Klassenverhältnisse - und damit Machtverhältnisse - aufrechtzuerhalten«. In ihrer auf dem Titel nicht kenntlich gemachten Streitschrift geht sie ausführlich auf verschiedene Formen von Klassismus ein. Seeck fordert, dass der Begriff als Diskriminierungsform anerkannt werden sollte.
Im Laufe der Diskussion im Stadttheater verwendete die Autorin den Begriff »Streitschrift« teilweise als Rechtfertigung, als ihr vorgehalten wurde, sie arbeite mit Plattitüden. Gleiches kreidete sie an anderer Stelle den Medien an, wenn diese etwa über Hartz-IV-Empfänger berichteten. Auch sonst verwendete die Berlinerin häufig Pauschalurteile gegenüber verschiedenen Gesellschaftsformen und sparte auch nicht an Kritik an der sogenannten Hochkultur, zu der auch das Stadttheater mit seinem Programm gehört. Mit dieser Kritik würde man sich im Haus beschäftigen und die eigene Situation hinterfragen, meinte Dramaturg Tim Kahn dazu.
Für Francis Seeck zeigt sich die Klassengesellschaft in einem starken Machtgefälle, durch das sich die Situation der armen Bevölkerung weiter verschärfe. Das Versprechen des Aufstiegs durch Arbeit hält sie für einen Mythos und verweist auf die jüngste Studie der Organisation Oxfam, in der vor der Ungleichheit in der Welt gewarnt wird. Damit einher geht Seecks Kapitalismuskritik, in dem sie den Urheber zahlreicher Missstände ausmacht und zu dessen aktiver Bekämpfung sie auffordert.
Mit diesen Ansichten traf sie bei dem Publikum auf offene Ohren. So wurden weitere Beispiele in Sachen Klassismus genannt. Allerdings gab es auch kritische Stimmen. So merkte eine Besucherin an, dass Seeck diese Diskriminierungsform zu sehr an monetären Erwägungen festmache. Schließlich gehöre es zur menschlichen Natur, sich von anderen abzugrenzen. »Geld allein wird das Problem nicht lösen.« Auch auf die Frage, welche Gesellschaftsform sie sich für die Zukunft vorstellen könne, blieb sie im Vagen. So forderte sie auf, dass man gemeinsam das Unrecht bekämpfen, das Kapital stärker besteuern und kollektiv einen weiterführenden Prozess entwickeln müsse.
Die Einnahmen aus der Veranstaltung der Gießener Kulturloge gespendet, die kulturelle Teilhabe für Menschen mit geringen Einkünften ermöglicht.
Klassismus (abgeleitet von »Klasse« im Sinne von »soziale Klasse«) bezeichnet Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position und richtet sich gegen Angehörige einer »niedrigeren« sozialen Klasse. Erstmals wurde der Begriff in den 1970er Jahren vom lesbischen Kollektiv The Furies verwendet. (bcz)