»Aufbruchstimmung« mit Schwächen

Gießen hat sich beim Test des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in vielen Punkten leicht verbessert.
Gießen. Einer der größten Eingriffe in den innerstädtischen Verkehr steht kurz bevor: Vor allem Radfahrer sollen von den Veränderungen profitieren, die mit dem Verkehrsversuch auf dem Anlagenring einhergehen. Insofern darf man bereits jetzt gespannt sein, wie der Fahrradklima-Test 2024 ausfällt, den der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) bundesweit alle zwei Jahre durchführt. Die Gegenwart ist indes zunächst noch mit gemischten Gefühlen zu betrachten: Einerseits hat sich Gießen in sehr vielen Punkten leicht verbessert. Es sei eine »Aufbruchstimmung« erkennbar, die »zum Bekenntnis der Koalition passt, den Rad-, Fuß- und Busverkehr deutlich stärker zu fördern, als dies in der Vergangenheit geschehen ist«, betont Dr. Jan Fleischhauer, Vorstandsmitglied des ADFC-Kreisverbandes, auf Anfrage des Anzeigers. Andererseits ist die bei der Befragung im Herbst 2022 erzielte Gesamtnote von 3,7 (2020: 3,9) nicht besser als jene im Jahr der Landesgartenschau 2014. Bloß waren die Ergebnisse in der Zwischenzeit noch schlechter. Und noch immer ist es so, dass eine Mehrheit das Radeln auf Gießens Straßen eher als Stress denn als Spaß empfindet (3,8). Ein weiterhin ungelöstes Problem scheint darüber hinaus der Diebstahl von Drahteseln zu sein (4,7).
Im Vergleich zu den sechs anderen hessischen Kommunen der gleichen Ortsgrößenklasse (50 000 bis 100 000 Einwohner) steht Gießen immerhin recht gut da, ist vom dritten auf den zweiten Platz knapp hinter Spitzenreiter Marburg vorgerückt (https://fahrradklima-test.adfc.de/ergebnisse). Es folgen Rüsselsheim, Hanau, Fulda, Bad Homburg und Wetzlar. In ganz Deutschland wird damit in dieser Kategorie Rang 19 von 113 Orten erreicht (2020: 40 von 110). Die Spanne der Bewertung entspricht dem Schulnotensystem, wobei eine 1 als fahrradfreundlich gilt und eine 6 eben als das genaue Gegenteil. In Gießen beteiligten sich diesmal 518 Bürgerinnen und Bürger an der nicht-repräsentativen Erhebung.
»Besonders viel für Radverkehr getan«
Am besten schneidet die Stadt - wie zuletzt - in der Rubrik »Infrastruktur und Radverkehrsnetz« ab. Positiv wird etwa beurteilt, dass die meisten Einbahnstraßen auch in Gegenrichtung genutzt werden dürfen (2,1; 2020: 2,2). Die gute Erreichbarkeit des Stadtzentrums per Velo (2,6; 2020: 2,7) und die Möglichkeit, Fahrräder öffentlich zu leihen (2,4 wie 2020), können ebenfalls als Stärken verbucht werden. Und gerade erst hat der Magistrat beschlossen, dieses Leistungsangebot ausbauen zu wollen. Zügig und direkt ans Ziel zu gelangen, wird zumindest noch mit 3,0 benotet.
Dass das Radeln seit der letzten Kommunalwahl einen größeren Stellenwert bekommen hat, dürfte inzwischen jedem bewusst geworden sein. Daher vermag es nicht zu überraschen, dass Gießen bei der Einschätzung, es sei »in jüngster Zeit besonders viel für den Radverkehr getan« worden, einen deutlichen Sprung nach vorne gemacht hat: von 3,6 auf 3,1. »Auswirkungen hat auch, dass die Stadt seit einigen Jahren mit komplett neuem Personal nach und nach Ampeln modernisiert«, erklärt Fleischhauer. Unter Leitung des ehemaligen Radverkehrsbeauftragten Alexander Koch hätten viele Ampeln eine neue Programmierung mit eigenen Rad-Signalen erhalten. Dies werde durchaus positiv wahrgenommen und habe zu einem spürbaren Plus um 0,4 Notenpunkte beigetragen. Die Note 4,2 deutet aber trotzdem noch einigen Optimierungsbedarf an.
Ein besseres Resultat wäre vermutlich bei der Frage nach komfortablen und sicheren Abstellmöglichkeiten drin gewesen (Note 3,6; 2020: 3,7). Die 425 zusätzlichen Plätze am Bahnhof in verschiedenen Varianten sind allerdings erst seit März verfügbar.
Parken auf Radwegen und viele Diebstähle
Obwohl sich bei fast allen Indikatoren ein Aufwärtstrend konstatieren lässt, bleiben freilich noch einige Baustellen: So fühlen sich nach wie vor mehr Radler gefährdet als sicher (4,4; 2020: 4,6). Das dürfte auch der Tatsache geschuldet sein, dass es häufig zu Konflikten mit Autofahrern komme (4,5; 2020: 4,6), man auf der Fahrbahn bedrängt oder behindert werde (4,5; 2020: 4,7) und Radwege sowie Radfahrstreifen - trotz zuletzt breiterer Markierungen - oft zu schmal (4,7; 2020: 5,0), zu holprig (3,8; 2020: 4,0) oder mit zu vielen Hindernissen versehen seien (3,8; 2020: 3,9).
Auf reichlich Missfallen stößt ferner, dass noch zu »großzügig geduldet« werde, wenn Pkw auf Radwegen parken (4,7; 2020: 4,9). Zwar werde dieses Fehlverhalten mittlerweile stärker kontrolliert und sanktioniert, attestiert Fleischhauer. Gleichzeitig würde er es begrüßen, wenn sich noch mehr Personal dieser Aufgabe annähme. Angesichts erhöhter Bußgelder seit 2021 (ab 55 Euro) könnten dadurch sogar mehr Einnahmen generiert werden.
Dass Fahrräder wiederum ein begehrtes Diebesgut sind, hatte das Polizeipräsidium Mittelhessen bereits kürzlich anhand seiner Kriminalstatistik bestätigt. Im Landkreis Gießen sei für 2022 ein Anstieg von 414 auf 581 Fahrraddiebstähle verzeichnet worden. Um dieses Deliktfeld kümmert sich eine eigens eingerichtete Arbeitsgruppe. Die Aufklärungsquote sei mit 16,5 Prozent in diesem »schwierigen Ermittlungsbereich« vergleichsweise hoch.
Abgesehen von der Sorge vor Langfingern gibt es übrigens nur noch einen weiteren Indikator, der schlechter bewertet worden ist als 2020 - und das ist die Fahrradmitnahme im ÖPNV (3,9; 2020: 3,7). Dieser Negativtrend lasse sich für ganz Hessen beobachten, weiß Fleischhauer. Das liege daran, dass in den Sommermonaten das Neun-Euro-Ticket eingeführt worden war, »ohne die Kapazitäten in den Zügen zu erhöhen«, weshalb oftmals für Räder gar kein Platz mehr gewesen sei. »Für den RMV sollte dies ein Warnsignal sein«, appelliert das ADFC-Vorstandsmitglied. Denn mit dem Start des »Deutschlandtickets« sei erneut eine stärkere Auslastung zu erwarten. Bund und Land müssten dafür die erforderlichen Gelder bereitstellen.
»Aktuelle Dynamik reicht nicht aus«
Doch zurück nach Gießen: Hier mahnt Fleischhauer mehr Tempo an. Beim Magistrat und den Stadtverordneten vermisse er allerdings bisweilen die Bereitschaft, mehr Personal einsetzen, mehr Geld in die Radverkehrsförderung investieren und dafür auch die vorhandenen Programme von Bund und Land abrufen zu wollen. Für die selbst gesteckten verkehrspolitischen Ziele - auch mit Blick auf die für 2035 angestrebte Klimaneutralität - »reicht die aktuelle Dynamik jedenfalls noch lange nicht aus«.
Wie die Stadt den aktuellen ADFC-Fahrradklima-Test einschätzt und welche Schlüsse daraus im Rathaus gezogen werden, lesen Sie in den nächsten Tagen im Anzeiger. Man wolle sich Zeit nehmen, die Ergebnisse auszuwerten.