Auftakt im Geschwindigkeitsgalopp

Generalmusikdirektor Andreas Schüller beweist beim Neujahrskonzert im Gießener Stadttheater auch seine Qualitäten als Entertainer. Zweieinhalb Stunden war heitere Festtagslaune garantiert.
Gießen. Die Abonnenten der Sinfoniekonzerte haben den neuen Generaldirektor Andreas Schüller zwar schon ein wenig kennengelernt, doch am frühen Sonntagabend kam nun auch ein breiteres Publikum im traditionellen Neujahrskonzert in den Genuss, diesen Mann dirigieren und auf der Bühne wirbeln zu sehen. Im proppenvollen, bis unter die obersten Ränge besetzten Stadttheater boten er und das von ihm geleitete Philharmonische Orchester Gießen ein schwungvolles, belebendes Programm, das die Zuhörer wahrscheinlich nicht so schnell vergessen werden.
Zweieinhalb Stunden war heitere Festtagslaune garantiert, und in jedem Augenblick dieser zweieinhalb Stunden stellte Schüller als Entertainer souverän unter Beweis, dass er ein Publikum mit Witz, Esprit und musikalischer Klasse ausgezeichnet zu unterhalten versteht. Die fröhliche, ausgelassene Neujahrsstimmung sprang auf das ganze Haus über, und am Ende überschütteten die verzückten Besucher alle Beteiligten mit wahren Beifallsstürmen.
Auch ernste Töne
Am Anfang gab es jedoch ernste Töne: Die Ouvertüre zu Ludwig van Beethovens Freiheitsoper »Fidelio« führte in die düstere Welt der Gefangenen. Unter Schüllers elanvollem, geschmeidigen Dirigat zeichneten die Musiker ein sehr transparentes, plastisches Bild, in dem die einzelnen Orchesterstimmen klar hervortraten und die dramatische Kraft des Komponisten beispielhaft zur Geltung kam. Beethoven, so der Dirigent im Anschluss, habe im Angesicht eines Polizeistaates in seiner einzigen Oper die Utopie der Freiheit formuliert. »Es ist traurig, dass diese Utopie bis heute nicht erfüllt ist. Ich hoffe auf ein besseres 2023 als 2022«, sagte er unter großem Applaus.
Damit war die Bühne bereitet für den Freiheitshelden Wilhelm Tell. Zu Schillers Drama hat Gioachino Rossini eine Oper geschrieben - und zu dieser Oper eine effektvolle Ouvertüre. Auch hier lieferte das Orchester wieder eine packende Darstellung, von der ernsten Weise der Celli zu Beginn über die musikalische Schilderung des Unwetters am Vierwaldstätter See und das von der Flöte vorgetragene Hirtenlied bis zum Reitergalopp in Hochgeschwindigkeit. Man machte auch Bekanntschaft mit dem Wilhelm-Tell-Galopp von Johann Strauß (Vater), den er bei Rossini ohne viel Federlesens geklaut hat.
Da das Wilhelm-Tell-Drama nur Männerrollen enthält, hat Rossini einfach eine habsburgische Prinzessin dazuerfunden, damit es nicht zu eintönig wird. Die junge, aus Uruguay stammende Sängerin Julia Araújo, die seit Beginn der Spielzeit zum Gießener Ensemble gehört, verlieh dieser Prinzessin Mathilde mit sinnlicher Ausstrahlung eindringlich Gestalt, wobei ihr warm timbrierter Sopran die Höhen scheinbar mühelos erklomm. Bei einem weiteren Auftritt nach der Pause zeigte die charmante Sängerin als Klärchen aus Beethovens Schauspielmusik zu Goethes »Egmont«, wie wandlungsfähig sie ist und nicht nur lyrische, sondern auch dramatisch-kämpferische Facetten zu bieten hat.
Mit der Gewittermusik aus Rossinis »Barbier von Sevilla« und der schmissig vorgetragenen Polka »Unter Donner und Blitz« von Johann Strauß (Sohn) ging es in die Pause, in der die Besucher dazu aufgerufen waren, auf einem gelben Wahlzettel für Erst- und Zweitstimme zwei Märsche von insgesamt sechs anzukreuzen. Die beiden Märsche mit den meisten Stimmen sollten dann aufgeführt werden.
Es sei alles wie sonst bei Wahlen, hatte Andreas Schüller dem amüsierten Wahlvolk mit auf den Weg gegeben: »Zu unserem großen Ärger wurde uns von Berlin ein Auszählungsleiter geschickt " - weiter musste er nicht sprechen, weil ohnehin alles Weitere in lautem Gelächter untergegangen wäre. Nach der Pause konnte er verkünden, es sei glücklicherweise gelungen, den Berliner Auszähler in der Zwischenzeit im Heizungskeller einzusperren: »Also haben wir ein Ergebnis!«
Von da an bestimmte eine bunte Abfolge von Märschen das musikalische Geschehen: Franz Schuberts Militärmarsch (in Orchesterfassung), Rossinis Ouvertüre zur »Diebischen Elster« sowie der Spanische Marsch von Johann Strauß (Sohn) mit spanisch klappernden Kastagnetten. Vom Publikum gewählt, gesellten sich der Ägyptische Tanz mit seinem exotisch-orientalischen Flair (Johann Strauß) und Beethovens Türkischer Marsch mit seiner Janitscharenmusik dazu.
Blaue Donau
Dann war Schluss und doch nicht Schluss, denn was wäre ein Neujahrskonzert ohne die schöne blaue Donau? Die gab es schließlich als Zugabe. Und weil der Applaus immer noch kein Ende nehmen wollte, zog Paul Linckes »Siamesische Wachtparade« auf. Als dritte Zugabe und somit zur Krönung ließen die Orchestermusiker den Abend mit einer lustigen a-cappella-Version des Rossinischen Reitergalopps ausklingen. (Sie verstehen auch ohne ihre Instrumente ihr Metier!) Es war deutlich zu spüren, dass ihnen der Abend trotz aller Anstrengungen ebenfalls großen Spaß gemacht hatte.
Am Ausgang des Theaters sah man nur freudig strahlende Gesichter. Wie könnte das neue Jahr besser anfangen?
Am Montagabend wurde das Konzert ein zweites Mal wiederholt.
