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Aus zwei Monaten wurden 31 Jahre

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Von: Petra A. Zielinski

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Klavierspielen und Sprachkenntnisse auffrischen: Dafür will sich Mechtild von Niebelschütz jetzt Zeit nehmen. © privat

Mechtild von Niebelschütz verlässt das Montessori-Kinderhaus St. Martin in Gießen in Richtung Ruhestand. Als sie die Einrichtung übernahm, gab es 24 Plätze. Heute werden 89 Kinder betreut.

Gießen. Eigentlich wollte Mechtild von Niebelschütz nur zwei Monate probieren, ob ihr die Arbeit Spaß macht und sich mit ihrer Rolle als Mutter von vier Kindern vereinbaren lässt. »Daraus sind 31 Jahre geworden«, erzählt sie lachend. Ende des Jahres wird die langjährige Leiterin des Integrativen Montessori-Kinderhauses »Sankt Martin« in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen. Die Nachfolge ist mit ihrer bisherigen Stellvertreterin gut geregelt.

»Als ich die Leitung der Sonderkindertagesstätte für behinderte Kinder des Sozialdienstes Katholischer Frauen übernommen habe, war dies eine kleine Einrichtung mit 24 Plätzen und einem Einzugsgebiet, das vom Vogelsberg bis Karben reichte«, erinnert sie sich im Gespräch mit dem Anzeiger. Ihr Mann, damals Gesamtleiter des Sozialdienstes Katholischer Frauen, hatte ihr den Vor-schlag gemacht.

»Wir haben damals gegenüber der denkmalgeschützten Brüggemannvilla - dem heutigen Montessori-Kinderhaus - gewohnt und ich hatte die Idee, mit der Kindertagesstätte dort hinzuziehen.« Nachdem das Bistum Mainz die Villa gekauft hatte, konnte die Einrichtung 1995 dort einziehen.

Zweifler überzeugt

Während früher ausschließlich Kinder mit Sprach- und Wahrnehmungsstörungen die Tagesstätte besuchten, startete Mechtild von Niebelschütz den Versuch, auch nichtbehinderte Mädchen und Jungen aufzunehmen. So entstanden vier Gruppen mit insgesamt 60 Kindern. Ihre Idee, die vier Jahre bevor die Rahmenbedingungen Integration gesetzlich festgelegt wurden, entstand, stieß nicht überall auf Gegenliebe.

»Von beiden Seiten gab es Bedenken. Vor allem dachten vielen, dass sich das sich das Montessori-Bildungskonzept mit dem Grundgedanken ›Hilf mir, es selbst zu tun‹ mit behinderten Kindern nicht umsetzen lasse.« Mechtild von Niebelschütz konnte alle Zweifler vom Gegenteil überzeugen. »Heute ist unser Haus in ganz Deutschland bekannt, auch ein Lehrfilm für die Fachwelt wurde 2015 hier gedreht.« Viele angehende Erzieher(innen) kämen zum Hospitieren.

»Ich habe Glück gehabt, einen Architekten zu finden, der meine Vorstellungen von der Raumaufteilung perfekt umgesetzt hat«, erklärt die 64-Jährige. »Es war mir wichtig, viele Rückzugsräume für die Kinder zu haben, um ihnen Privatsphäre zu ermöglichen.« Im ersten Jahr habe die Einrichtung noch den Namen »Kinderhaus Sankt Martin« getragen, erst im zweiten Jahr des Bestehens habe man sie in »Montessori-Kinderhaus« umbenannt.

Ruhiges Arbeiten

»Parallel zu meiner Arbeit habe ich eine Montessori-Ausbildung gemacht«, erzählt sie. »Das Konzept bildet die Grundlage für strukturiertes und ruhiges Arbeiten sowie die Förderung der unterschiedlichen Begabungen. Die Besucher sind begeistert, wie leise es bei uns ist. Ohne Konzentration ist kein Lernen möglich«, weiß Mechtild von Niebelschütz. Und: »Je größer die Divergenz, umso leichter gelingt die Inklusion.« Aus diesem Grund nimmt die Kindertagesstätte seit 2007 auch hochbegabte Kinder auf. »Wir haben eine gute Mischung aus behinderten Kindern und solchen, die mit vier Jahren schon Schach spielen können.« Oftmals seien gerade hochbegabte Kinder sehr empathisch. Vergleiche untereinander würden bei den Kindern wegfallen.

»In jeder Gruppe befinden sich zwei bis drei Kinder mit Behinderung, darunter viele Autisten. Unser Ziel ist es, Kinder unabhängig von ihrem IQ in allen Bereichen zu fördern. Ich finde es immer spannend, wie unterschiedlich die Mädchen und Jungen doch sind.« Neben einem Werkraum stehen den Kindern unter anderem auch eine Bibliothek und eine Turnhalle zur Verfügung. Eigenes Essen müssen die Kleinen nicht mitbringen. »Wir gehen mit den Kindern einkaufen und sie bereiten sich ihr Essen selbst zu, decken den Tisch und spülen«, erklärt die Leiterin.

Einmal im Monat findet eine »Kinderkonferenz« statt, in der Kinder eigene Wünsche einbringen können. Jeweils zwei Kinder einer Gruppe nehmen daran teil. »So hat ein Sechsjähriger sich mal einen Riegel an der Toilettentür gewünscht und war ganz stolz, als sein Wunsch realisiert wurde«, nennt sie ein Beispiel.

»Wir haben nur wenig Regelspiele. Die meisten Spiele sind aus Holzmaterialien. Neben Fähigkeiten wie Sprache und Mathe soll auch die Sinneserfahrung unterstützt werden. »Die Kinder dürfen mit Zahlen über 1000 rechnen, denn alle lieben große Zahlen«, weiß sie aus langjähriger Erfahrung. Kenntnisse über die unterschiedlichsten Blätterarten werden ebenso vermittelt wie über Länder oder Tiere.

Klare Regen

»Klare Regeln helfen Kindern sich zu orientieren. Darüber hinaus sollte man die Sprache so einsetzen, wie sie gemeint ist. Das heißt, wenn ich an eine Tür klopfe und frage, ob ich reinkommen kann und die Antwort ›Nein‹ erhalte, darf ich den Raum nicht betreten. Das nächste Mal sage ich dann eben einfach: ›Ich komme jetzt rein‹.« Insgesamt zählt das »Montessori-Kinderhaus« 35 Mitarbeiter(innen), darunter fünf Männer. »Kleinkinder brauchen männliche Bezugspersonen«, betont Mechtild von Niebelschütz. Hinzu kommen freiberufliche Therapeuten aus den Bereichen Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie sowie ein Therapeut aus dem Autismusinstitut. Am Nachmittag finden AGs, beispielsweise Ballett oder »Kleine Forscher«, statt. »Mit jedem Kind nehmen wir auch eine Familie auf, Eltern sind also jederzeit willkommen. Sie dürfen auch mit uns essen oder Geburtstage feiern«, erklärt Mechtild von Niebelschütz. Darüber hinaus würden auch gemeinsame Familienausflüge gemacht. »Nur so können Netzwerke entstehen.« Auch das Außengelände darf nach Feierabend oder am Wochenende von Eltern und Kindern der Tagesstätte genutzt werden. Aktuell besuchen 89 Mädchen und Jungen ab zwei Jahren bis ins Schulalter die Ganztageseinrichtung. »Wir sind für die nächsten zwei Jahre ausgebucht und nehmen nur noch Kinder aus Gießen auf«, unterstreicht die Pädagogin.

Mechtild von Niebelschütz selbst hat nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin unter anderem eine heilpädagogische sowie religionspädagogische Ausbildung draufgesetzt. Als interne Auditorin hat sie auch das Qualitätsmanagement der Einrichtung aufgebaut. »Wer sich nicht weiterbildet, kann aufhören zu arbeiten«, ist sie überzeugt. Auch im Ruhestand möchte sie dem Montessori-Kinderhaus weiterhin beratend zur Seite stehen. »Ich möchte dort helfen, wo ich gebraucht werde.« Aber auch Klavierspielen und Sprachkenntnisse auffrischen steht auf ihrer Agenda. »Ich werde es vermissen, die Eltern zu begleiten, aber langweilig wird mir bestimmt nicht«, sagt sie schmunzelnd. »Ich hoffe, dass das Haus mit der gleichen Herzlichkeit weitergeführt wird, damit es vielen Kindern und ihren Familien gut geht.«

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