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Ausstellung »wie ein Wunder«

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Die Jüdische Gemeinde Gießen zeigt zahlreiche religiöse und persönliche Gegenstände aus der Zeit um 1938, die sehr lange nicht mehr öffentlich zu sehen waren.

Gießen. In den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde Gießen ist von nun an eine Ausstellung religiöser Gegenstände aus der ehemaligen Synagoge im Pohlheimer Stadtteil Holzheim zu sehen. Das Innere des später abgerissenen jüdischen Gotteshauses wurde in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört. Gerettete Objekte der damaligen jüdischen Einwohner sind nun nach langer Zeit im Archiv wieder in jüdischer Hand.

»Es ist ein Wunder, dass die Gegenstände nun hier ausgestellt werden können«, betonte Marina Frankfurt, Erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, die ein Einzugsgebiet weit über die Stadtgrenzen hinaus hat. Als sie diese das erste Mal bei einem Besuch in Holzheim zu Gesicht bekam, habe sie die Gegenstände bewundert. Unter den Überbleibseln ist etwa ein großformatiges Gebet- und Liederbuch wie auch jenes, das dem Rabbiner als Grundlage des zur Eröffnung und Segnung der Ausstellung vorgetragenen Gebets diente. Es stammt aus dem frühen 18. Jahrhundert und ist das älteste Stück in der Sammlung.

Des Weiteren zu sehen gibt es 16 alte Schriften und acht Bände mit Eigentumsangaben. Frankfurt bezeichnete die Ausstellung als »klein, aber bedeutend«. Die Jüdische Gemeinde gedenkt, mit der Erzeugung von Sichtbarkeit Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten.

Die Idee für das Ganze ging von Simone und Tim van Slobbe aus, die beide der Initiative Stolpersteine Pohlheim e.V. angehören. Hauptsächlich verantwortlich für die Recherche der historischen Fakten war Dr. Sabine Sander, Geschichtswissenschaftlerin aus Bad Soden. Bei den Wortbeiträgen zur Eröffnung wurde einmal mehr deutlich, dass es sich bei den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus um Menschen aus den Reihen der Bevölkerung gehandelt hat.

Markierungen wie etwa ein dem Viehhandel zuordnungsbarer Stempel in einem der hinter Vitrinenglas aufbewahrten Bücher bezeugen den persönlichen Charakter der Gegenstände. Sie gehörten Jüdinnen und Juden aus Holzheim und Grüningen, die zu Anfang des NS-Regimes 1933 ungefähr zwei Prozent der jeweiligen Bevölkerung der Ortschaften ausmachten. Zu Zeiten der Diktatur wurden viele von ihnen ermordet, einigen gelang die Flucht.

Besonders deutlich tritt der individuelle Bezug an 13 sogenannten »Kennkartenanträgen« von Holzheimer Juden hervor, die auf das Jahr 1939 zu datieren sind. Sie sind mit einem gut sichtbaren »J«-Stempel versehen, der zur Identifikation bei Grenzkontrollen diente. Ebenfalls zu sehen sind die aufgezwungenen Namenszusätze »Israel« und »Sara« für Männer und Frauen. Durch derartige Bezüge »wird die Sache menschlich und es wirkt auch nachhaltig«, so Dow Aviv, Zweiter Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Zu der Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden hingegen bestehe oftmals »kein Bezug«. Er betonte zudem den würdigenden Charakter der Ausstellung für die Verstorbenen.

Rabbi Schimon Groißberg erläuterte des Weiteren, dass durch den neuen Ort für die ausgestellten Dinge eine Verbindung dazu besteht, wie im jüdischen Glauben mit religiösen Gegenständen umgegangen wird. Diese werden entweder mit einer Achtung wie einem Menschen gegenüber beigesetzt oder für Juden zu späterem Zeitpunkt als Quell der eigenen Geschichte verwahrt.

Andreas Ruck, der Pohlheimer Bürgermeister, zeigte sich froh, dass das religiöse Gut nun »endlich den Hafen wiedergefunden« habe. Letztendlich war durch die Einwilligung der Stadt Pohlheim Bewegung in den Transfer der historischen Überreste gekommen. Matthias Bubel, Pfarrer von Holzheim und Dorf-Güll, fand zudem bewegende Worte mit Perspektive auf die Vergangenheit. Hinsichtlich dieser mische sich Trauer in den Blick. »Die Ausstellung zeigt uns, was verloren gegangen ist«, erklärte er.

Weiteren Anlass bietet diese zudem für die Wahrung des Geschichtsbewusstseins von Schülern. Etwa seitens der Pohlheimer Adolf-Reichwein-Schule besteht bereits eine rege Praxis von Besuchen. »Wir sind eine offene Gemeinde«, betonte Dow Aviv. Schon ohne die Ausstellung wurde bei Besuchen von Schülern deutlich, dass es viele Fragen gebe und die Zeit kaum ausreiche, alle zu beantworten.

Die Ausstellung kann ab sofort besichtigt werden, aus Sicherheitsgründen ist eine Anmeldung beim Büro der Gemeinde im Burggraben 4 notwendig.

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