1. Startseite
  2. Stadt Gießen

»Beide Seiten leiden«

Erstellt:

giloka_2304_drz_ebp_2304_4c_2
Im Deutsch-Russischen Zentrum engagieren sich auch Menschen mit Wurzeln in der Ukraine. Verbindendes Element ist die Sprache: Russisch. © Pfeiffer

Das Deutsch-Russische Zentrum Gießen leistet auch für geflüchtete Ukrainer Unterstützung. Der Angriff von Putins Armee hat die Aktiven geschockt.

Gießen . Helfen, helfen, helfen. Das ist es, was Anna Ens im Moment umtreibt. Die 30-Jährige ist Vorsitzende des Deutsch-Russischen Zentrums in Gießen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Aktiven geschockt: »Das kam sehr überraschend für alle. Wir haben nicht geglaubt, dass so etwas heutzutage in Europa möglich ist.« Viele der Menschen, die sich in dem Zentrum engagieren, hätten Freunde und Verwandte sowohl in der Ukraine als auch in Russland. »Es tut sehr weh. Beide Seiten leiden«, sagt die Vorsitzende.

Schnell war klar, dass man im Zentrum Unterstützung für die Schutzsuchenden, die meist auch Russisch sprechen, leisten möchte. »Wir sind wohl der größte russischsprachige Verein in der Gegend. Die Menschen brauchen vor allem schnell Informationen.« Diejenigen, die in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) untergebracht sind, seien automatisch vernetzt; wenn einer etwas erfährt, wüssten es bald alle. Schwieriger sei es für Ukrainer, die eine private Unterkunft gefunden haben.

»Die Gastgeber wissen ja auch nicht alles«, gibt die Vorsitzende zu bedenken. Das Deutsch-Russische Zentrum hat daher Informationsveranstaltungen organisiert, um mit den Geflüchteten ins Gespräch zu kommen und ihnen Anlaufstellen für Fragen rund um Kinderbetreuung, Arbeitsmöglichkeiten und finanzielle Unterstützung näherzubringen.

Aber auch ganz private Sorgen beschäftigen Anna Ens seit Kriegsbeginn. Die 30-Jährige, die an einer Gesamtschule als Lehrerin arbeitet, wurde in Russland geboren und ist 2015 der Liebe wegen nach Deutschland gezogen. Ihre Eltern und auch die betagte Großmutter leben nach wie vor in Russland. Wegen der Corona-Pandemie war sie zuletzt vor drei Jahren in ihrem Geburtsland, ihre Eltern sieht sie nur noch über Videotelefonie. Wann sie sich mal wieder in die Arme nehmen können? Sie weiß es nicht. Sowohl die Ein- als auch die Ausreise ist derzeit nur über Umwege möglich. Anna Ens befürchtet, dass dies mit einer weiteren Isolation Russlands noch schwieriger oder unmöglich werden könnte.

Wenn sie mit ihren Eltern telefoniert, überlege sie sich genau, worüber sie mit ihnen spricht - aus Angst, dass jemand das Gespräch abhören könnte. Sie könne verstehen, dass man im Westen auf Proteste seitens der Bevölkerung warte. Aber die Situation in Russland sei nicht vergleichbar mit der in Deutschland: »Die Menschen werden verhaftet, nur weil sie das Wort ›Krieg‹ benutzen. Sie haben Angst, ihre Meinung zu sagen.«

Sorge um ihre Familie habe sie derzeit aber keine. »Die Lebensmittel wurden teurer, aber sonst läuft alles normal.« Wer wie ihre Eltern eine Datscha besitzt, könne sich zudem mit selbst angebautem Obst und Gemüse versorgen - und sich so auch beschäftigen. Obwohl die russischen Behörden zahlreiche ausländische Nachrichtenportale blockiert haben, könne man sich nach wie vor außerhalb der Staatspropaganda informieren. Ihr Eindruck: »Die Menschen bekommen viel mit.«

Das Bundeskriminalamt registrierte im Zusammenhang mit dem Krieg Hunderte anti-russisch motivierte Straftaten wie Sachbeschädigung durch Schmierereien oder Beleidigungen. Anna Ens hat nichts dergleichen erlebt, sie habe lediglich über viele Ecken von Anfeindungen gehört.

Zunächst sei sie daher besorgt gewesen, in der Öffentlichkeit ihre Muttersprache zu sprechen. Bei einem Spaziergang durch den Seltersweg habe sie jedoch von vielen Seiten russische Gesprächsfetzen wahrgenommen, an denen sich offenbar niemand störte. »Da wusste ich, ich kann mich entspannen.«

Im Deutsch-Russischen Zentrum, das 2007 gegründet wurde, engagieren sich nicht nur Russen, sondern beispielsweise auch Menschen mit Wurzeln in Kasachstan oder der Ukraine. Verbindendes Element ist die Sprache. Auch mit den geflüchteten Ukrainern sprechen Anna Ens und ihre Mitstreiter Russisch. »Alle sind sehr dankbar, dass unsere Infoveranstaltungen überhaupt stattfinden.«

Etwa 70 geflüchtete Familien hätten sich in den vergangenen Wochen an den Verein gewandt - »mit unterschiedlichen Fragen und Bedürfnissen«. Große Baustellen seien die Themen »Sprachkurse« und »Kinderbetreuung«. Teils würden sich die Kurse immer wieder verschieben und an Kita-Plätzen fehle es auch so schon. Doch ohne eine verlässliche Betreuung könnten diejenigen, die bereits einen Job in Aussicht haben, ihn nicht antreten. Ein weiteres Problem sei, dass die Schüler in den Deutsch-Intensivklassen zwar die Sprache lernen, aber gleichzeitig viel in Fächern wie Mathematik oder Biologie verpassen. Viele Geflüchtete, so Anna Ens’ Eindruck, hoffen auf eine zeitnahe Rückkehr in ihre Heimat - dann könnte der lange Unterrichtsausfall zum Problem werden.

Als Vorsitzende des Zentrums ist ihr Alltag seit Beginn des Krieges stressiger geworden. Sie habe bereits mit mehreren Bürgermeistern im Kreis gesprochen und Hilfe angeboten. Denkbar sei beispielsweise Kinderbetreuung für die Geflüchteten im Deutsch-Russischen Zentrum oder Sprachkurse. Dafür bräuchte es aber mehr Platz und finanzielle Unterstützung für den Verein.

Der Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Zentrums ist es wichtig, dass die russische Regierung und die Menschen im Land nicht in einen Topf geworfen werden: »Putin ist böse, aber nicht die Russen im Ganzen.« Das versuche sie auch ihren Schülern deutlich zu machen, die sie nach Kriegsbeginn mit Fragen löcherten. »Es ist passiert und ich kann es nicht beeinflussen. Aber ich helfe da, wo ich kann.« Foto: Pfeiffer

Auch interessant