Berührend unfertiges Puzzle

Der Film läuft aktuell im Kino Traumstern. Am Montagabend war Kim Seligsohn zum Filmgespräch im Anschluss an die Vorführung in Lich und gab Auskunft über die Entstehungsgeschichte des Films.
Gießen . Der Dokumentarfilm »Liebe Angst« von Kim Seligsohn und Sandra Prechtel berührt. Er erzählt die spröde Beziehung der Holocaustüberlebenden Lore Kübler zu ihren Kindern, aus dem Blickwinkel der Tochter Kim erzählt. Der Film läuft aktuell im Kino Traumstern. Am Montagabend war Kim Seligsohn zum Filmgespräch im Anschluss an die Vorführung in Lich und gab bereitwillig Auskunft über sich und die Entstehungsgeschichte des Films.
Zum Inhalt: Lore war sechs Jahre alt, als ihre Mutter Marianne nach Auschwitz deportiert und dort vergast wurde. Lore überlebte und wurde zu einer »displaced Person«. Das Trauma ihrer Kindheit zog sich durch ihr ganzes Leben und hatte heftige Auswirkungen auf die Beziehung zu ihren Kindern. Sie versucht, mit der vermeintlichen Schuld zu leben, dass sie überlebt hatte und ihre Mutter und Großmutter in der Gaskammer starb. Doch darüber reden kann Lore nicht. Die Beziehung zu ihren beiden Kindern Tom und Kim ist schwierig. Lore kann keine echte Bindung eingehen und überfordert damit ihre Kinder. Ihr Sohn zerbricht daran, ihre Tochter Kim schleppt ein ganzes Paket an Problemen mit sich herum, haut früh von Zuhause ab, wird Sängerin, schlägt sich mit Engagements so durch, trotz ihrer wunderbaren, weichen Mezzosopranstimme, die immer wieder im Film erklingt. Sie zieht nach Berlin und zufällig in die Straße, in der ihre Großmutter vor der Deportation lebte.
»Als ich meiner Mutter erzählte, wo ich in Berlin wohne, sagte sie mir, dass sie und ihre Mutter dort bis zu ihrer Verschleppung gewohnt hatten. Das war wie eine Initialzündung für alles weitere«, erzählt sie im anschließenden Gespräch. »Ich hatte immer das Gefühl, dass mir etwas fehlen würde.« Diese Lücke war ihre jüdische Identität, die ihr vorher nicht bewusst war und der sie anschließend nachging, denn Zuhause spielte Religion überhaupt keine Rolle.
»Meine Mutter war keine spirituelle Person. Es wurde weder Weihnachten noch Chanukka gefeiert.« Zunächst widmete sich Seligsohn ihren eigenen Ursprüngen, produzierte mehrfach die »Hymne an die Namen« mit unterschiedlichen Protagonisten, um die Deportierten dem Vergessenwerden zu entreißen.
Letztlich mündeten alle ihre Bemühungen in dem Filmprojekt, das sie gemeinsam mit der Regisseurin Sandra Prechtel verwirklichte. Insgesamt arbeitete sie rund neun Jahre an diesem Stoff, bis der Film 2022 bei dem Münchner Filmfest der Öffentlichkeit vorgestellt und begeistert gefeiert wurde. »Am Anfang musste ich vor allem meine eigene Scham überwinden«, erzählte Seligsohn, denn der Film zeigt ihre Mutter, wie sie in ihren letzten Lebensjahren war: Eine kleine, vollgestopfte Wohnung mit tausenden von Papieren und mittendrin eine alte Frau, die sich mit und an ihrer Tochter reibt.
»Sie fühlte sich schuldig, weil sie überlebt hatte. Sie wollte eigentlich die kleine Entschädigungsrente nicht annehmen, sie wollte immer irgendetwas zurückgeben«, erzählt ihre Tochter im Gespräch. Der Titel des Films ist ein Teilzitat, das ihre Mutter in einer ihrer Visionen hörte, die sie häufig nachts heimsuchten. Im Ganzen lautet das Zitat: »Liebe. Angst. Bitte bleib bei mir.«
»Daraus wurde die verkürzte Fassung, die auch sehr gut passt«, erläutert sie in dem Gespräch. Am Ende zieht die Mutter in ein Altenheim, wird dort liebevoll umsorgt und kann zum Schluss über ihre schrecklichen Erlebnisse sprechen. »Sie ist gerettet gestorben«, davon ist ihre Tochter überzeugt.
»Der Film soll Mut machen, sich auf Dinge einzulassen und nicht immer um die Dinge weiter herum zu eiern«, sagt sie. Genau das hat sie getan: Sie begab sich auf Spurensuche und fand eine Menge über sich und ihre Familie heraus. Heute kann sie mit dieser Last der Vergangenheit umgehen, ist mit sich im Reinen, die Angststörungen, die sie jahrelang quälten, sind beendet. In der Identitätssuche ging sie noch weiter: Ganz bewusst nahm sie den Geburtsnamen »Seligsohn« ihrer Großmutter an. »Ich wollte ihn nicht als Künstlernamen, sondern ich wollte ihn als meinen Namen. Auch das war ein langer Weg, den ich bewusst gegangen bin.«
Der Film besticht durch seine Offenheit und hinterlässt dennoch Fragen, denn er ist nicht glatt und weichgespült wie gängige Dokumentationen. Man erfährt nur soviel über die Umstände des Überlebens der Mutter, wie diese vor der Kamera gewillt ist, preiszugeben. So bleiben manche Fragen ungeklärt, wie in einem unfertigen Puzzle, das man nicht beenden kann, weil einige Steine fehlen. Sie lassen sich nicht mehr einfügen, denn Lore Kübler hat nicht mehr über sich und ihre Vergangenheit preisgegeben. Sie starb friedlich 2020.
Der Film ist heute um 18.30 Uhr noch im Kino Traumstern zu sehen.