Bester Ausblick inklusive

Schwindelfreiheit muss sein: Für den Gießener Dachdeckermeister Christian Petrowski geht es hoch hinaus
Gießen . Rauf aufs Dach - bei Wind und Wetter. Was ganz schön ungemütlich klingt, ist für Christian Petrowski ein Traumjob: »Man lernt nicht Dachdecker, weil man es gesagt bekommt. Sondern weil man es will.« Bei einem Dachdecker in seinem Heimatdorf Breitscheid absolvierte er ein Schülerpraktikum. »Es war im Oktober und der Oktober in Breitscheid ist wie der Februar in Gießen. Es war knackig kalt.« Abgeschreckt hat ihn das nicht, im Gegenteil. 1996 hat er seine dreijährige Ausbildung begonnen, später die Meisterschule besucht und sich 2012 mit dem eigenen Betrieb selbstständig gemacht.
Geplant war die Selbstständigkeit nicht: »Zum Meister bin ich gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde.« Petrowski arbeitete als Vorarbeiter, als sich ein Kollege für die Meisterschule anmeldete - und ihn gleich mit. Den Abschluss in der Tasche, mietete der Dachdecker eine kleine Garage in der Ederstraße als Lager an und führt die ersten Aufträge allesamt noch alleine aus: Reparaturarbeiten, Dachfenstereinbau und kleinere Dachflächen.
Ein Jahr später folgten der erste Auszubildende und der erste Geselle und mit ihnen auch die ersten größeren Aufträge bis hin zum Zweifamilienhaus. Heute beschäftigt Christian Petrowski acht Mitarbeiter und aus der Garage in der Nordstadt ist eine rund 300 Quadratmeter große Halle im Kiesweg in Wieseck geworden. Und auch wenn damit die Büroarbeit zunimmt: Dreimal pro Woche klettert der Chef auch selbst aufs Dach: »Ich bin Handwerker. Ich will draußen unterwegs sein und nicht nur am Schreibtisch sitzen.«
Um 7 Uhr starten er und seine Mitarbeiter in den Arbeitstag, die Teams für die einzelnen Baustellen werden eingeteilt. Mit Plänen auf Papier muss dabei niemand hantieren, alle Mitarbeiter erhalten die Infos zu ihren Einsätzen digital aufs Tablet. Und auch der Zollstock hat in vielen Fällen ausgedient, vermessen wird mittels Drohne. Das alte Handwerk mit dem Modernen verbinden sei wichtig, wenn man als Betrieb langfristig Bestand haben will, findet der Dachdeckermeister. Wer sich als Dachdecker gegen die Digitalisierung sperre, den werde es in fünf oder zehn Jahren nicht mehr geben.
Und auch sonst hat sich in dem Beruf einiges geändert: Mussten Dachdecker früher noch das gesamte Material zu Fuß in die Höhe bugsieren, erleichtern heute mobile Kräne die Arbeit. Körperlich fit sollte man aber trotzdem sein. »Wir sind fast den ganzen Tag draußen, im Sommer und im Winter. Da braucht es Schmalz in den Knochen.« Im Sommer werde es mitunter so heiß, dass man auf den dunklen Dachziegeln Eier braten könne. Handschuhe gehören daher ebenso zur Berufsbekleidung, wie eine Schutzbrille und Sicherheitsschuhe mit nagelfester Sohle und Stahlkappen. Im Fall der Fälle sorgen Fangnetze am Gerüst für Sicherheit.
Schwindelfrei sollte man natürlich auch sein, wird dafür aber auch regelmäßig mit einem tollen Ausblick belohnt: »Wenn man zum Beispiel in Wettenberg auf dem Dach steht und über Gießen schauen kann: Das ist phänomenal.«
Da wundert es nicht, dass Christian Petrowski und sein Team die Einsätze vor Ort auch regelmäßig für Fotos nutzen - und damit auch Werbung in eigener Sache auf ihren Social-Media-Kanälen machen, um potenzielle Auszubildende zu finden. »Die Politik hat es nicht geschafft, also nehmen es die Handwerker selbst in die Hand.«
Ein bis zwei Lehrlinge stellt der Dachdeckermeister jedes Jahr ein. Der Notendurchschnitt sei dabei nicht das Entscheidende, sondern dass der Auszubildende die richtige Motivation für den Beruf mitbringe. Auch Bewerbungen von Abiturienten sind gerne gesehen - schließlich sei ein Studium nicht für jedermann. Einer der Auszubildenden in dem Wiesecker Betrieb hat zuvor ein Informatikstudium abgebrochen.
Damit die Interessenten schon mal reinschnuppern können, absolvieren sie zuvor ein Praktikum. Dabei stellten die Bewerber dann mitunter fest, dass der Job des Dachdeckers »etwas anderes ist, als dem Onkel mal beim Bau der Gartenhütte geholfen zu haben. Auf dem Bau herrscht ein anderer Wind«.
Großen Wert legt der Dachdeckermeister auch auf Teamfähigkeit, schließlich stehen er und seine Mitarbeiter nicht alleine auf den Dächern. Und auch nach Feierabend werde gerne noch mal gemeinsam ein Bier getrunken. »Der Zusammenhalt ist wichtig. Wenn jemand nicht ins Team passt, kann er noch so gute Arbeit machen - das funktioniert dann nicht.«
Im Dachdecker-Beruf sind Männer übrigens meist unter sich, Bewerberinnen bislang selten. »Aber die Betriebe denken um«, hat Christian Petrowski festgestellt. Auch er selbst würde gerne eine Frau einstellen, wenn sich die richtige Bewerberin findet: »Man muss anpacken können, nicht schön aussehen.«
Etwa zwei bis drei Wochen dauere es, das Dach eines Einfamilienhauses zu decken. Der Beruf beinhaltet jedoch noch viel mehr: Christian Petrowski und sein Team sorgen für bessere Wärmedämmung an der Fassade, machen aus dem Speicher, der bislang bestenfalls als Abstellraum dient, zusätzlichen Wohnraum oder beraten Hauseigentümer zu Dachbegrünungen. Keine Baustelle gleicht der anderen, Abwechslung ist garantiert. Und auch bei der Energiewende mischen Dachdecker mit - dank energetischer Sanierung und dem Einbau von Fotovoltaikanlagen. »Wir sind der geilste Handwerkerberuf, den es gibt«, sagt Petrowski. Man glaubt es ihm.
»Bevor die eigentliche Dachbedeckung erfolgt, kümmerst du dich um den Einbau von Dämmschichten und Abdichtungen, Dachfenstern oder Lichtkuppeln. Dachziegel oder Dachsteine - du kennst alle Formen und Materialien, weißt über die jeweiligen Vor- und Nachteile Bescheid und mit welchen Techniken Dach- oder Wandflächen eingedeckt werden. Solarzellen oder Schneefanggitter, Dachrinnen oder Fallrohre - alles was zusätzlich zum Dach gehört, fällt ebenfalls in deinen Aufgabenbereich und wird von dir installiert oder montiert.« - so wirbt der Deutsche Handwerkskammertag online um Dachdeckernachwuchs. Interessenten erfahren dabei auch, dass Erich Honecker gelernter Dachdecker war und Dachdecker Norbert Schwarz aus Dinslaken Charterflüge für Handwerksbetriebe anbietet, damit diese auch bei Aufträgen im Ausland gut ans Ziel kommen.
Dauer der Ausbildung: Drei Jahre. Auf Antrag ist eine individuelle Verlängerung oder Verkürzung möglich.
Voraussetzung: Hauptschulabschluss (Berufsreife) oder Realschulabschluss (Mittlere Reife) oder Abitur oder Fachabitur. Bewerber sollten körperlich fit und schwindelfrei sein und über eine gute Hand-Augen-Koordination verfügen.
Ausbildungsvergütung:
Im 1. Lehrjahr: circa 780 Euro.
Im 2. Lehrjahr: circa 940 Euro.
Im 3. Lehrjahr: circa 1200 Euro. (ebp)
