Beten statt herzen

Freunde aus Gießen entwickeln gerade eine Gebets-App für Christen weltweit. Die Nutzer sollen damit auch zum Innehalten angeregt werden.
Gießen . Ein paar Mal über den Bildschirm des Smartphones gewischt und schon kann man die Urlaubsfotos der Freunde herzen, schlanke Körper in Fitnessstudios bestaunen oder sich von Influencern mehr oder weniger unbemerkt den neuesten Hype andrehen lassen. Soziale Medien wie Instagram oder Facebook sind aus dem Leben vieler Menschen kaum noch wegzudenken - und darauf ausgelegt, sie möglichst lange an die gewinnbringenden Dienste zu fesseln. Eine Gruppe junger Christen aus Gießen will dem Hinterherjagen nach Likes und Bestätigung etwas entgegensetzen: Mit einer App, die Christen weltweit miteinander im Gebet vernetzen soll. »Wir wollen die Selbstzentriertheit aufbrechen und durch den Fokus auf Gott ersetzen«, sagt Raphael Ludwig, der die Idee zu »Oremus« hatte. Die Veröffentlichung ist für den Spätsommer geplant. Anstatt Likes oder Herzchen, die Aufmerksamkeit, Selbstbestätigung oder Geld bringen, soll das neue soziale Netzwerk »Impulse geben und auf Gott verweisen«.
Ludwig realisiert die App gemeinsam mit seiner Frau, vier Freunden aus Gießen und einem Österreicher, der das Programmieren übernimmt und auch die Webseite zum Projekt erstellt hat. »Ohne sein Know-how könnten wir es nicht realisieren, es wäre viel zu teuer.« Denn die Freunde wollen »Oremus« kostenlos anbieten, auch Werbung soll es nicht geben. Für ihr Projekt hat die Gruppe einen Verein gegründet, die laufenden Kosten für die App sollen über Spenden finanziert werden.
Alle sieben Mitstreiter eint der Glaube an einen lebendigen Gott, der real existiert. »Wir Menschen müssen uns Zeit nehmen, um in der Lage zu sein, ihm zu begegnen.« Ludwig studiert an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen und engagiert sich in der Freien evangelischen Gemeinde. »Oremus« soll aber für alle Christen weltweit sein, ungeachtet ihrer Konfession. Neben Deutsch können Nutzer sich zum Start die App-Funktionen auch auf Englisch anzeigen lassen. Weitere Sprachen sollen folgen.
Der Hauptunterschied zu anderen sozialen Medien: »Oremus« enthält eine Funktion, die das Gebet fördern und den Nutzer zum Innehalten anregen soll. Dafür erscheint auf dem Bildschirm das Logo der App - betende Hände -, dessen Kontur sich mit Farbe füllt, wenn der Bildschirm einige Sekunden lang gedrückt gehalten wird. Erst danach wird das Gebet »gezählt«. Wer die Augen beim Beten geschlossen halten möchte, wird zusätzlich über einen Vibrationsimpuls informiert. Die Funktion ist gleichzeitig auch Namensgeber für die App: »Oremus« ist Lateinisch und bedeutet »Lasst uns beten!«.
Abseits der Gebetsfunktion ähnelt »Oremus« anderen bildbasierten Netzwerken wie Instagram. Das heißt, Nutzer können ein Profil anlegen und eigene Fotos teilen, außerdem die Profile anderer abonnieren, um deren Beiträge zu sehen. Was bei Instagram »Story« heißt - Beiträge, die nach 24 Stunden wieder verschwinden - findet sich bei »Oremus« als »Flame« (Flamme).
Einen Algorithmus, der darüber entscheidet, welche Beiträge Nutzer prominent angezeigt bekommen, soll es explizit nicht geben. Auch die Möglichkeit, dass Nutzer mit ihren Beiträgen Geld verdienen, ist nicht vorgesehen. »Ein Gebet ist mehr wert als ein bezahlter Post«, findet Ludwig.
Die Idee zu »Oremus« kam dem 26-Jährigen während der Corona-Pandemie. Mit deren Beginn »ist die ganze Welt stehen geblieben, nur die digitale nicht, weil Influencer über ihren Stillstand berichtet haben«, erinnert er sich. Im christlichen Bereich habe sich online jedoch wenig getan, vorbereitete Texte hätten noch immer auf Veranstaltungen hingewiesen, die angesichts des Lockdowns ausfielen. »Über das, was mich wirklich interessiert, habe ich nichts Aktuelles gefunden.« Die Gebets-App, hoffen ihre Erfinder, könnte für einen besseren und schnelleren Austausch zwischen gläubigen Christen führen - und vielleicht auch denjenigen ansprechen, der sich sonst eher fernhält von den Sozialen Medien.
Einer, der die App zusammen mit Raphael Ludwig entwickelt, ist Jonas Waltersbacher. Der angehende Lehrer hält sich aus den Sozialen Medien weitgehend fern - will sie aber auch nicht verteufeln. »Sie haben Vor- und Nachteile. Es ist wie ein Flohmarkt, der viel anbietet. Man geht vielleicht mit einem bestimmten Ziel rein, sieht plötzlich etwas anderes und verliert sich darin und sein Ziel aus den Augen.«
»Oremus«, das hoffen die Freunde, soll sammelnd wirken und nicht zerstreuen, aktuelle Informationen bereitstellen, aber gleichzeitig entschleunigen. Ob dieser Spagat funktioniert, müsse man abwarten. Die ersten Reaktionen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis seien überwiegend positiv. Mit der App wolle man Instagram zwar nicht den Rang ablaufen - dass sie fleißig genutzt wird, hoffen Raphael Ludwig und Jonas Waltersbacher trotzdem: »Wir sind überzeugt, dass Gott ein stärkerer Motor ist als Geld.«
