»Bildung rauf - Rüstung runter«

Etwa 400 Menschen beteiligen sich in Gießen an der Demo zum 1. Mai. Sie soll ein Zeichen für den branchenübergreifenden Zusammenhalt setzen. Die Reden zeigen viele Ungerechtigkeiten auf.
Gießen . So einige Äußerungen und Forderungen ließen dem heimischen SPD-Bundestagsabgeordneten Felix Döring dann wohl doch keine Ruhe. Bei der Feier des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum 1. Mai auf dem Kirchenplatz stürmte er geradezu als letzter Redner spontan das Podest. Zwar habe ihm die von Bundeskanzler Scholz angekündigte »Zeitenwende« mit hohen Ausgaben für die militärische Ausrüstung der Bundeswehr auch nicht »geschmeckt«. Doch eines müsse er hier und jetzt deutlich sagen: »Der Aggressor ist Putin. Dazu kann es keine zwei Meinungen geben.« Missfallen hatten ihm etwa solche Appelle wie auf einem Banner der DKP, auf dem es hieß: »Abrüsten statt Aufrüsten! Raus aus der NATO! Frieden mit Russland und China.«
Etwa 400 Menschen waren gekommen, um demonstrierend über Teile des Anlagenrings und durch die Nordstadt zu ziehen. Alles, was sich selbst nicht als politisch rechts verortete, von der SPD bis hin zur Antifa, nahm daran teil. Eine besonders lautstarke Gruppe bildete die Antifaschistische Reaktionäre Aktion Gießen (ARAG). per Megafon peitschte Anna ihre Mitstreiter an. Der erste Zwischenstopp erfolgte passenderweise vor der Agentur für Arbeit am John-F.-Kennedy-Platz. Die DGB-Jugendlichen Kristin Hügel-Schäfer, Desiree Becker und Luis Menzler verlasen einen gemeinsamen Redebeitrag. Auch sie skandierten »Rauf mit der Bildung« und »Runter mit der Rüstung«. Kritisiert wurde, dass das Bildungssystem in Deutschland im Verhältnis »zum Reichtum dieses Landes in einem wirklich desolaten Zustand« sei. Aufgelistet wurde eine Unterfinanzierung bei Kitas und Grundschulen, überfüllte Schulklassen, fehlende zeitgemäße Ausstattung und Digitalisierung sowie eine Unterfinanzierung von Hochschulen. Ihre Appelle umfassten auch eine Bafög-Strukturreform und einen Personalrat für Hilfskräfte. »An den Hochschulen arbeiten Hundertausende Hilfskräfte in Wissenschaft und Verwaltung. Für ihre Arbeit bekommen sie kaum mehr als den Mindestlohn. Kurze Vertragslaufzeiten und Kettenbefristungen sind an der Tagesordnung.« Auch in der Tarifrunde im vergangenen Herbst sei ihnen die Aufnahme in den hessischen Tarifvertrag verwehrt worden. Und zum Fachkräftemangel betonten sie: »80 Prozent der Betriebe bilden nicht aus. Fachkräftesicherung? Fehlanzeige!« Deshalb forderten sie eine »umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie«.
Für die IG Metall sprach Enya Hauptmann am Oswaldsgarten. Die Kämpfe der Gewerkschaften seien seit vielen Jahren noch immer dieselben. »Von den Arbeitgebern hören wir stets die gleichen Argumente gegen die Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen. Die werden unsere Forderungen nie für gerechtfertigt halten.« Der 1. Mai solle ein Zeichen für branchenübergreifenden Zusammenhalt setzen. »Als Gewerkschaften sind und bleiben wir nun mal das stärkste, was die Schwachen haben«, so Hauptmann.
Gute Berufsaussichten für Arbeitnehmer bedeuteten gerade nicht, möglichst viele unbefristete Beschäftigte zu haben, pflichtete Petra Becker als Sprecherin der Verdi-Betriebsgruppe - sie ist zugleich Personalratsvorsitzende der Justus-Liebig-Universität - bei. »Geld ist genug vorhanden. Das sehen wir nur schlecht verteilt.«
Sebastian Ziegler von »Students for Future« plädierte für eine schnelle und unbürokratische Aufnahme aller Menschen, die bei uns Schutz suchen. »Wer einen Abschluss hat, soll auch möglichst rasch bei uns seinem Beruf nachgehen können.«
Schallende Ohrfeige
Holger Simon von Verdi Mittelhessen berichtete von den zähen Tarifverhandlungen für die im Sozial- und Erziehungsdienst Beschäftigten mit den Kommunen. Da die freien Träger den Abschluss in der Regel übernehmen würden, beträfe dies 1,6 Millionen Menschen. Deren Professionalität beruhe auf einer guten Ausbildung. »Und die braucht einen guten Preis.« Einer schallenden Ohrfeige gleiche es, dass die Arbeitgeber ernsthaft »Job-Fit-Massagen« angeboten hätten statt spürbarer Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und beim Gehalt. Darüber hinaus beklagte Simon die fehlende gesellschaftliche Anerkennung, die bei Facharbeitern wesentlich stärker ausgeprägt sei. Da mehr als 80 Prozent Frauen in Sozialberufen arbeiteten, gar mehr als 90 Prozent in Kitas, werde offenbar angenommen, dass sie dies »aus reiner Nächstenliebe« täten. »Doch es sind Profis.«
In der Initiative »Stadt für Alle« haben sich wiederum all diejenigen zusammengeschlossen, die sich gegen die Verdrängung von Mietern durch Investoren zu wehren versuchen. Chalid El Saeidi erzählte während der Demo von »bewährten Entmietungsmethoden«.
Für den DGB-Kreisvorsitzenden Klaus Zecher ist es wichtig, für eine gemeinsame Zukunft ohne Kriege und eine intakte Welt einzutreten, in der alle Menschen in Menschenwürde leben können. »Dafür kämpfen wir gemeinsam. Deshalb sind wir heute hier.« Dazu gehöre ebenfalls, das Rentenniveau endlich anzuheben, die Tarifautonomie zu stärken und Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen zu vergeben. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher fühlte sich »ganz dicht« bei den Forderungen der Gewerkschaften. »Diese Stadt soll als gutes Beispiel vorangehen.«
