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Bis zum perfekten Abgang

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Von: Björn Gauges

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Ein Abgang voller Emotionen: Kim Bui nach ihrem letzten Wettkampf im August 2022 bei den Europameisterschaften in der Münchner Olympiahalle. Foto: dpa © dpa

Die bemerkenswerte Geschichte einer Spitzenturnerin: Bei einer Lesung in Allendorf erzählte Kim Bui von ihrem Werdegang - und von ihren jahrelangen Essstörungen.

Gießen . Kim Bui zählt zu den erfolgreichsten deutschen Turnerinnen der Geschichte. Die gebürtige Tübingerin gewann zahlreiche Deutsche Meisterschaften, holte zwei Bronzemedaillen bei Europameisterschaften und kann als Teilnehmern von gleich drei Olympischen Turnieren die längste internationale Karriere im deutschen Frauenturnen vorweisen. Einer breiteren, nicht mit dieser Sportart vertrauten Öffentlichkeit wurde sie dennoch erst bekannt, nachdem sie ihre eindrucksvolle Karriere im Sommer 2022 beendet hat: durch die ARD-Dokumentation »Hungern für Gold« (noch in der Mediathek zu sehen), in der sie neben anderen Spitzensportlern über ihre jahrelangen Essstörungen spricht.

ARD-Reportage über die Bulimie

Nun kam die 34-Jährige auf Einladung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) in die Sport- und Kulturhalle Allendorf/Lahn, um ihr Buch »45 Sekunden« vorzustellen, in dem sie gemeinsam mit Autor Andreas Matlé ihre Lebensgeschichte erzählt. »Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist« heißt es im Untertitel. Wer den Bestseller aber noch nicht kannte und nun mit einer Abrechnung gerechnet hatte, in der die Tochter vietnamesisch-laotischer Eltern das System Leistungssport an den Pranger stellt, wurde überrascht. »Turnen ist für mich der schönste Sport der Welt«, betonte sie knapp ein Jahr, nachdem sie bei den Europameisterschaften in München ihren letzten Wettkampf geturnt hat. Und auf diese »45 Sekunden« bezieht sich auch der Titel des Buches, für das sich Kim Bui vier Tage lang mit dem erfahrenen Biografen Matlé in einem Hotel eingeschlossen hat, um alle relevanten Themen und Stationen ihres Lebensweges zur Sprache zu bringen.

Dazu zählt etwa das Aufwachsen in Tübingen, das von der Fluchtgeschichte ihrer als Boat People nach Deutschland gekommenen Eltern geprägt ist. Mit großer Disziplin haben sie sich nach ihrer Ankunft in Deutschland ein Leben im Wohlstand erarbeitet, berichtete Kim Bui, was auch erklärt, dass stets großer Wert auf Disziplin und die schulische Bildung der Tochter gelegt wurde. »Die Eltern zu enttäuschen kam für mich nicht in Betracht.« Diese Härte möge für viele Leser zunächst nicht ganz nachvollziehbar sein, erklärte Andreas Matlé im Podiumsgespräch mit der hr-Sportreporterin Martina Knief, erklärt sich aber aus der Lebensgeschichte der Eltern - und erwies sich auch als wichtiger Bestandteil der Erfolgsformel, mit der die Tochter die körperlichen Härten ihres Sports bewältigte.

Schließlich habe sie nicht nur neben der Schule und dem Studium jeweils sechs Tage die Woche trainiert, sondern dabei auch viele Schmerzen ertragen und sich sogar nach zwei Kreuzbandrissen wieder an die Spitze zurückgekämpft. Doch die so selbstbewusste wie sympathische Schwäbin hadert nicht: »Ich habe die besten Eltern der Welt«, betont sie und erzählt in Allendorf, wie sie gerade erst in dem vietnamesischen Heimatort ihres Vaters zu Besuch war, wo er in einer Hütte mit Wellblechdach aufgewachsen ist.

Zum Leistungsturnen ist sie zudem eher zufällig gekommen, die Eltern haben sie unterstützt, aber nie angetrieben. Im Gegenteil: »Endlich«, entfuhr es der Mutter, nachdem Kim ihr angekündigt hat, im späten Alter von 33 Jahren die Karriere zu beenden. Die Essstörungen hatte sie da längst überwunden. Dennoch schilderte sie dem vielköpfigen Publikum in der Turnhalle, darunter viele junge Fans, wie es dazu kam, dass sie als im Alter von 15 Jahren begann, ihr Essen zu erbrechen. Eine Trainerin habe sie darauf hingewiesen, »dass es mit ein, zwei Kilo weniger doch leichter für mich sein würde«. Sie esse sehr gerne und habe darauf nicht verzichten wollen. So verzog sie sich fortan nach einer Mittagsmahlzeit immer häufiger aufs Klo. Im Alter von 17 Jahren hat sie dann selbstständig nach einer Therapeutin gesucht und sich für vier Jahre in Behandlung begeben. »Professionelle Hilfe ist unabdingbar, wenn man diese Krankheit überwinden will«. Ihr ist es gelungen. »2012 habe ich aufgehört mich zu wiegen. Ich höre seitdem auf mein Körpergefühl.«

Viel Mut habe Kim Bui bewiesen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, befand Biograph Matlé. Zugleich dürfe man das Buch aber nicht auf dieses eine Kapitel reduzieren. Viele andere Themen kommen darin ebenfalls zur Sprache: positive wie negative. Dazu zählen etwa die Schmerzen, ihr Comeback, der Respekt, die Disziplin, der Sexismus, ihr Studium der Biologie und das Streben nach Perfektion.

Und auch wenn sie seit den letzten 45 Sekunden beim Münchner Wettkampf bislang nicht mehr geturnt ist, erklärte sie am Ende des Abends unmissverständlich: »Habe ich schon erwähnt, dass ich keinen Moment dieser Sportlerjahre bereue?«

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Kim Bui im Gespräch mit hr-Sportreporterin Martina Knief und Buchautor Andreas Matlé in Allendorf. Foto: LZG © LZG

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