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Braunes Marburg

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Von: Gesa Coordes

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Der Kilian wurde während der NS-Zeit zum Sitz der Gestapo. Foto: Georg Kronenberg © Georg Kronenberg

Mit einem sogenannten Themenweg unter dem Titel »Braunes Marburg« blickt die Stadt auf die düsteren Seiten ihrer 800-jährigen Geschichte zurück.

Marburg. Als Adolf Hitler an seinem Geburtstag am 20. April 1932 nach Marburg kam, jubelten ihm 20 000 Menschen zu. Die idyllische Stadt an der Lahn war nämlich schon lange vor 1933 eine braune Hochburg. Mit Universitätsbibliothekar Otto Böckel stellte Marburg schon Ende des 19. Jahrhunderts den ersten offen antisemitischen Abgeordneten im Reichstag. Als »Brutstätte der Reaktion« wurde die Stadt 1920 bekannt, als Mitglieder des Marburger Studentenkorps 15 unschuldige Arbeiter bei Mechterstädt hinterrücks erschossen. Treibende Kraft des Nationalsozialismus in Marburg waren die Studierenden.

»Entartete Kunst«

Marburg war während der NS-Zeit nicht nur eine braune Stadt wie jede andere, sondern entschied sich besonders früh und eindeutig für Hitler. Mit einem sogenannten Themenweg unter dem Titel »Braunes Marburg« blickt die Stadt auf die düsteren Seiten ihrer 800-jährigen Geschichte zurück. Dabei handelt es sich um einen Stadtspaziergang zum eigenen Erkunden, der in seinem Kern 45 Minuten dauert. Grundlage bilden die Recherchen und Veröffentlichungen der Geschichtswerkstatt Marburg. Die zentrale Route startet an der Elisabethkirche, wo das Kruzifix von Ernst Barlach seit 1945 wieder über dem Kreuzaltar hängt. Die Nazis hatten es als »entartete Kunst« entfernt.

In der Elisabethkirche liegt - durch einen historischen Zufall - auch das Grab des ehemaligen Reichpräsidenten Paul von Hindenburg, einem Wegbereiter Hitlers.

Der Kirche gegenüber findet sich das Behring-Denkmal, das die Nazis lange nach Behrings Tod im Dezember 1940 mit großem Pomp einweihten. Die Behringwerke, die damals zu den IG-Farben gehörten, setzten nicht nur russische und kroatische Zwangsarbeiter ein. Sie ließen auch Präparate gegen Fleckfieber, Gelbfieber, Ruhr und Gasbrand an Häftlingen im KZ Buchenwald erproben. Mehr als 500 Insassen wurden für die verbrecherischen Experimente missbraucht, mindestens 127 starben.

Auf dem Weg durch die Oberstadt »stolpern« Fußgänger über zahlreiche kleine Messingplatten. Es handelt sich um die »Stolpersteine« des Künstlers Gunter Demnik, der daran erinnert, dass die Marburger Jüdinnen und Juden und ihre Häuser einst zum Stadtbild gehörten. Dazu zählten etwa Gerson und Selma Isenberg, die einst im Steinweg 12 (heute Cavete) eine Metzgerei sowie eine Gastwirtschaft mit Hotelzimmern betrieben. Sie war ein beliebter Treffpunkt für jüdische und nichtjüdische Menschen in Marburg. Im Marburger Rathaus herrschten die Nationalsozialisten schon vor 1933: Die NSDAP wurde 1930 stärkste Fraktion, ab 1932 hatte sie die absolute Mehrheit. Ihre Ergebnisse lagen in Marburg bei jeder Wahl über dem Reichsdurchschnitt. Es gab überfüllte Massenkundgebungen, Aufmärsche, Fackelzüge von SA und SS sowie einen begeistert gefeierten Besuch Hermann Görings. Der parteilose Oberbürgermeister Johannes Müller wurde wenige Tage nach der Reichstagswahl 1933 zum Rücktritt gezwungen. Stattdessen wurde der überzeugte Nationalsozialist Ernst Scheller ernannt. Bis dahin hatte Scheller als Chefredakteur der Oberhessischen Zeitung (heute Oberhessische Presse) jahrelang Werbung für die Nazis gemacht.

Der Kilian auf dem Schuhmarkt wurde zum Sitz der Gestapo. Bereits in den ersten Monaten 1933 wurden mehr als 100 politische Gegner verhaftet, verhört, zum Teil misshandelt und in »Schutzhaft« genommen. Eingesperrt wurden sie in bis heute existierende Arrestzellen im Keller des Marburger Rathauses.

In der Philipps-Universität wählten zwei Drittel der Studierenden schon 1932 den NS-Studentenbund. Die NSDAP-Ortsgruppe wurde seit 1928 von Jurastudent Hans Krawielitzki geleitet, der 1936 Landrat wurde. Studentenführer war Gerhard Todenhöfer, später stellvertretender Leiter des Referats für »Judenangelegenheiten« im Auswärtigen Amt.

Unterdessen wurden jüdische und demokratische Wissenschaftler entlassen. Zu den ersten zählten der Staatswissenschaftler und NS-Gegner Wilhelm Röpke, der die Diktatur in der Türkei und der Schweiz überlebte sowie der jüdische Sprachwissenschaftler und Leiter des Deutschen Sprachatlasses, Hermann Jacobsohn, der sich für die linksliberale DDP engagiert hatte. Am Tag der Mitteilung über seine Entlassung nahm er sich das Leben.

Vier Deportationen

Der Weg führt weiter über den »Garten des Gedenkens«, wo die SA am 9. November 1938 die prächtige Marburger Synagoge anzündete, zur Weidenhäuser Brücke, dem Ort eines bemerkenswerten Prangerumzuges. Im Mittelpunkt stand der angehende jüdische Mediziner Jakob Spier, der eine Liebesbeziehung zu einer jungen Marburgerin hatte.

Wer noch weiter gehen möchte, kann das Denkmal für die Deserteure des Zweiten Weltkriegs in der Frankfurter Straße, den heute bebauten Kämpfrasen, die neue Synagoge und das Marburger Staatsarchiv, ein typisches Beispiel für NS-Architektur - einschließlich der Hakenkreuze an der Decke - besuchen.

Eine weitere Station ist der Marburger Hauptbahnhof, wo von Dezember 1941 bis März 1943 insgesamt 345 Menschen in vier Deportationen in Konzentrationslager verschleppt wurden. Wer heute zu den Gleisen hinaufsteigt, kann ihre Namen auf vier Edelstahlbändern über den Treppengeländern lesen.

Der Stadtspaziergang »Braunes Marburg« ist im Marburger Tourismusbüro erhältlich und lässt sich unter www.marburg.de/braunes-marburg herunterladen. Unter diesem Link bieten Autorinnen und Autoren der Geschichtswerkstatt auch ausführlichere Informationen zu den einzelnen Stationen. Daher bietet sich der Weg auch für Schulklassen an. (gc)

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