Care-Pakete als Monatslohn

Der Gießener Caritasverband feiert Jubiläum - wegen Corona mit einem Jahr Verspätung. Beim Start 1946 war Gießen schwer gezeichnet vom Zweiten Weltkrieg
Gießen. Als 1946 der Gießener Caritasverband seine Arbeit aufnimmt, ist Gießen vom Krieg schwer gezeichnet. Ein kleines Zimmer im Pfarrhaus von St. Bonifatius muss als Büro für Kaplan und Caritasdirektor Bernhard Itzel reichen. Die Gehälter für die ersten Mitarbeiterinnen werden mit Care-Paketen bezahlt. Heute hat der Verband seinen Sitz in der Frankfurter Straße, rund 750 hauptamtliche und etwa 300 ehrenamtliche Mitarbeiter. Am 19. Mai feiert er Jubiläum - allerdings wegen der Corona-Pandemie mit einem Jahr Verspätung, quasi »75 plus 1«.
Genau die Hälfte der Zeit hat Eva Hofmann miterlebt. Seit 1984 arbeitet sie beim Gießener Caritasverband. Angefangen hat sie in der Betreuung für Menschen mit Behinderung, seit 2004 ist sie Direktorin und bildet zusammen mit Direktor Ulrich Dorweiler den aktuellen Vorstand. »Damals war es wie ein Familienbetrieb«, erinnert sich Hofmann an die 1980er Jahre. Heute füllen allein die Leistungen für die Region Gießen schon eine Din A4-Seite in der Festschrift, hinzu kommt weitere Hilfe und Beratung in der Wetterau und im Vogelsberg.
Die Gesellschaft habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert und mit ihr auch der Caritasverband, sagt Ulrich Dorweiler. Das sehe man auch an der Doppelspitze aus Frau und Mann, hohe Posten stünden hier jedem - und jeder - offen. »Das trauen viele der Caritas nicht zu«, weiß ihr Direktor. Wohl auch, weil sich innerhalb der katholischen Kirche mit Blick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter noch mehr tun müsse, ergänzt Hofmann.
Katholisch muss man übrigens nicht sein, wenn man beim Caritasverband arbeiten will. Das Mittragen der Ziele und Werte sowie der Respekt vor dem religiös-kirchlichen Charakter wird aber erwartet. Auch eine Scheidung oder Homosexualität sind heute kein Hinderungsgrund mehr für eine Anstellung oder Weiterbeschäftigung. Gesellschaftliche Veränderungen würden auch bei der Caritas gelebt. »Wir sind viel toleranter, als man denkt. Und das nicht nur, weil wir es sein müssen, sondern aus Überzeugung. Aber wir verwässern dabei nicht«, betont Dorweiler.
Pünktlich zum Jubiläum hat der Gießener Caritasverband die »Charta der Vielfalt« unterschrieben. Die Ende 2006 ins Leben gerufene Initiative hat es sich zum Ziel gesetzt, Vielfalt in Unternehmen und Institutionen zu fördern und wird von der Bundesregierung unterstützt. Organisationen sollen ein Arbeitsumfeld erschaffen, das frei von Vorurteilen ist und alle Mitarbeiter gleichermaßen wertschätzen. Sein Jubiläum hat der Gießener Caritasverband daher unter das Thema »Caritas - wir leben Vielfalt« gestellt.
Lange Festvorträge soll es am 19. Mai bewusst nicht geben, stattdessen sollen die Mitarbeiter Gelegenheit haben, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das Fest, so Hofmann, ist auch ein Dankeschön für die Beschäftigten - insbesondere, nachdem aufgrund der Corona-Pandemie viele Feiern ausfallen mussten oder Anlässe wie Verabschiedungen in den Ruhestand nur in kleinem Rahmen durchgeführt werden konnten. »Die Caritas lebt davon, wer hier arbeitet«, betont Dorweiler.
Vielfältig sind aber nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch das Angebot und die Menschen, die es nutzen. Die Kernangebote ziehen sich durch die vergangenen 76 Jahre, weitere kamen über die Jahre hinzu. Bereits ein Jahr nach der Gründung wird der Gießener Verband Träger eines Alten- und Pflegeheimes mit 220 Betten im Kreis Lauterbach. Auch die Hilfe für die in Gießen ankommenden Heimatvertriebenen ist ein Schwerpunkt der Anfangszeit. 1949 eröffnet das erste Notjugendwohnheim mit 20 Plätzen in einer Ruine in der Alicenstraße 20. Im gleichen Jahr beginnt auch der Bau des Caritashauses »Maria Frieden« in der Frankfurter Straße 44. Zunächst ist es ein Lehrlingswohnheim, später ein Kinder- und Jugendwohnheim. Mit der Zeit wird »Maria Frieden« immer wieder erweitert, ein Altenpflegeheim und ein Kindergarten kommen hinzu.
Zu Beginn ist die Caritas in Gießen noch kein eigener Verband, sondern eine Außenstelle des Diözesancaritasverbandes Mainz. Dorthin schickt Bernhard Itzel im Jahr 1946 einen Brief: »Die nach dem Zusammenbruch nach Hause flutenden Menschen wurden im Katholischen Schwesternhaus den ganzen Tag über mit warmem Essen, kostenlos und ohne Markenabgabe, verpflegt. Bis 1000 Portionen Suppe wurden täglich ausgegeben. Etwa 30 Schwerstkriegsversehrte finden nachts in den Kellerräumen des Schwesternhauses Aufnahme.«
Nach vielen Verhandlungen sei ihnen ein Hotel am Bahnhof als Übernachtungsraum für Frauen mit Kindern zur Verfügung gestellt worden. Etwa 40 bis 50 Frauen kommen laut Itzel hier Nacht für Nacht unter, Brei werde auf einem kleinen Herd im Waschraum gekocht. Im ehemaligen Bahnbetriebsamtskeller habe man weitere Übernachtungs-, Tages- und Waschräume geschaffen. Die Hauptlast der Arbeit stemmen in den Monaten und Jahren nach Kriegsende Ehrenamtliche: »Etwa 100 freiwillige Helfer und Helferinnen stehen Tag und Nacht für die ›Caritas‹ im Einsatz.« Auch heute wären viele Angebote ohne die Freiwilligen gar nicht möglich.
Rund vier Jahrzehnte - bis 1985 - bleibt Bernhard Itzel Caritasdirektor. 1991 stirbt er unerwartet. Sein Nachfolger Michael Hofman ist bis Ende 1999 im Amt, Auf ihn folgt Bernhard Brantzen bis Ende 2008. 2004 wird die Satzung reformiert, Vorstand und Aufsichtsrat getrennt. Fortan gibt es eine Doppelspitze und mit Eva Hofmann die erste Direktorin. Von 2009 bis 2020 arbeitet sie zusammen mit Joachim Tschakert, auf ihn folgt Ulrich Dorweiler.
Da der durch die Kirchensteuer finanzierte Bereich sehr klein sei, müsse sich der Verband ebenso wie private Anbieter auf dem Markt behaupten, betont Direktorin Hofmann. Wo sich die Gesellschaft verändert, verändern sich auch die Ansprüche. Heute könne sich beispielsweise kaum jemand vorstellen, im Alter in einem Dreibettzimmer zu leben. Neben der vollstationären Pflege der Anfangszeit ist das Angebot heute deutlich breiter: Ambulante Pflege, Tagespflege, betreutes Wohnen, Ambulanter Hospizdienst aber auch offene Angebote für Senioren außerhalb der Einrichtungen. Denn Einsamkeit sei bereits vor der Pandemie ein großes Thema gewesen, gibt Eva Hofmann zu bedenken.
Der Gießener Caritasverband will da helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet das vor allem Unterstützung und Linderung der Not für die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. 2015 müssen wieder zahlreiche Unterkünfte und Hilfsangebote für Menschen geschaffen werden, die ihre Heimat hinter sich gelassen haben. »So lange es keinen Weltfrieden gibt, wird sich daran auch nichts ändern«, ist Dorweiler überzeugt.
Rund 80 Millionen Menschen sind laut den Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht - der Krieg in der Ukraine ist dabei nur für einen kleinen Teil der Fluchtbewegung verantwortlich. Auch wenn im Gegensatz zu 2015 und 2016 die Geflüchteten etwa aus Afrika oder dem Nahen Osten weniger Wege hätten, um nach Deutschland zu gelangen, sei die Not laut Dorweiler noch immer groß.
2015 bietet das Kinder- und Jugendheim St. Stephanus 235 Plätze für unbegleitete minderjährige Geflüchtete an sechs Standorten in Stadt und Kreis Gießen sowie in der Wetterau. Aber nicht nur eine sichere Unterkunft sollen die Schutzsuchenden bekommen. Einige von ihnen schließen in den kommenden Jahren auch eine Ausbildung bei der Caritas ab, vor allem in der Altenpflege. »Manche, die als unbegleitete Geflüchtete zu uns gekommen sind, arbeiten immer noch hier. Das ist schon etwas Besonderes«, findet Hofmann.
Damit hilft sich der Verband auch selbst. Denn in vielen Bereichen, wie in der Altenpflege oder in der Kinderbetreuung, ist es schwierig, Mitarbeiter zu finden. Abgrenzung zu den Mitbewerbern tut da Not, wenn man Fachkräfte für sich gewinnen will. Verlässlich will man bei der Caritas sein, die Mitarbeiter angemessen bezahlen und Arbeitszeiten ermöglichen, mit denen sich Familie und Beruf unter einen Hut bringen lassen. Für Hofmann ist die Caritas ein attraktiver Arbeitgeber: »Ich hätte 1984 nicht gedacht, dass ich mein ganzes Berufsleben hier verbringen würde.«
Egal ob es um die Unterbringung Geflüchteter geht, die Pflege von Senioren, die Begleitung Schwerkranker oder die Schuldnerberatung - die Mitarbeiter der Caritas treffen auf Menschen in ganz individuellen Notlagen. Manchmal brauche es dabei »Lösungen, die viel Kreativität benötigen«, erzählt Direktor Dorweiler. »Wenn es gelingt, geht man lächelnd nach Hause und hat den Glauben an die Menschheit wiedergefunden.«
