»Corona ist zum Alltag geworden«

Ein weiteres Pandemie-Halbjahr liegt hinter den Gießener Schulen und es zeigt sich, dass der Präsenzunterricht nicht zu ersetzen ist. Wie können Wissenslücken geschlossen werden?
Gießen . Für die hessischen Schülerinnen und Schüler heißt es jetzt: Sechs Wochen Sommerferien. Hinter ihnen liegt ein beinahe normales Schuljahr. Bereits im März ist die Maskenpflicht weggefallen und auch die Tests sind mittlerweile freiwillig. Dennoch hat die Corona-Pandemie auch über das vergangene Halbjahr seine Schatten geworfen. Wie haben Gießener Schulen die vergangenen Monate erlebt? Der Anzeiger hat nachgefragt.
»Als kleine Schule mit viel Platz sind wir gut durch Corona gekommen«, berichtet Markus Koschuch, Leiter der Alexander-von-Humboldt-Schule . »Die Hygienemaßnahmen haben wir beibehalten. Wer sich ohne unwohl gefühlt hat, konnte selbstverständlich auch seine Maske weiter im Unterricht tragen.« Zwei Gratistests seien pro Woche an die Schülerinnen und Schüler ausgegeben worden. »Wir haben eine kurze Phase, in der ein Viertel der Lehrkräfte an Corona erkrankt war, hinter uns. Zum Glück waren die Verläufe in der Regel eher leicht. Von unseren 250 Schülern waren nur knapp zwei Prozent betroffen. Wer nach der Corona-bedingten Pause wieder am Schulunterricht teilnehmen wollte, musste einen negativen Gratis-Schnelltest vorweisen.«
Distanzunterricht sorgt für Lücken
Der Distanzunterricht habe vor allem in den achten und neunten Klassen Lücken hinterlassen. »Diese Jahrgänge waren am längsten davon betroffen.« Neben der Einrichtung zusätzlicher Förderkurse habe man sich am Programm »Löwenstark« der Landesregierung beteiligt. »Einhundertprozentig sind noch nicht alle auf dem aktuellen Stand, aber wir arbeiten daran. Vor allem in Mathe, Englisch und Deutsch ist viel nachzuholen.« Corona habe vor allem den ohnehin förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern »nicht gutgetan«.
Die Alexander-von-Humboldt-Schule hat laut Leiter Markus Koschuch mittlerweile ihre zwei Deutschintensivklassen um eine weitere aufgestockt. »Wir haben viele ukrainische Schülerinnen und Schüler aufgenommen, die sehr gute Leistungen erbringen.« Der Wechsel in den Regelunterricht sei zumeist nach einem Dreivierteljahr möglich. »Darüber hinaus haben wir eine ukrainische Lehrerin, die den Mädchen und Jungen auch Unterrichtsmaterial aus ihrer Heimat vermittelt.«
Zufrieden ist der Schulleiter auch mit den diesjährigen Abschlüssen: »17 Hauptschülerinnen und -schüler haben einen qualifizierten Hauptschulabschluss gemacht, drei einen normalen und fünf keinen. Das ist eine interessante Verschiebung, denn normalerweise haben wir weniger mit einem qualifizierten Abschluss, dafür aber auch kaum Mädchen oder Jungen, die uns ohne Abschluss verlassen«. Im Bereich Realschule hätten 16 von 18 Jugendliche einen qualifizierten Abschluss erwerben können, acht von ihnen sogar mit einer Eins vor dem Komma. »Ich bin sehr stolz und zufrieden mit den Leistungen. Jetzt können wir uns alle auf die Ferien freuen.«
»Alle Veranstaltungen - von AGs über Jubiläumsfeiern bis hin zum Abiball - konnten wie vor der Pandemie wieder stattfinden«, berichtet Dirk Hölscher, Leiter der Liebigschule . »Ausgefallene Klassenfahrten wurden nachgeholt, ebenso wie Physikstunden in der Jahrgangsstufe 7, Englisch in der Jahrgangsstufe 6 und Sport in der Jahrgangsstufe 8.« Hier seien jeweils zwei Stunden pro Woche zusätzlich unterrichtet worden.
»Der Förderunterricht an der Lio wurde mit einem Lerncoaching-Programm gekoppelt, das für freiwillig Wiederholende oder pädagogisch Versetzte der Jahrgangsstufen 6 bis 10 verpflichtend war. 25 Schülerinnen und Schüler haben an dem Programm teilgenommen.« Insgesamt seien die Noten besser geworden. »Wir hatten eigentlich nach zwei Jahren, in denen jeder versetzt werden konnte, mit einem Einbruch gerechnet, der zum Glück ausgeblieben ist.« Der Abijahrgang sei mit einem Notenschnitt von 2,07 der bisher beste in der Geschichte der Schule gewesen.
»Hundertprozentig aufholen werden wir den Stoff nicht können«, bedauert der Schulleiter. Bei einigen Schülern seien Lücken entstanden, bei anderen weniger. Insgesamt lasse sich der Präsenzunterricht durch nichts ersetzen.
Stressresilienz stärken
Sorge macht Dirk Hölscher aktuell der Anstieg der Coronafälle. »Gerade in den vergangenen Wochen haben wir eine zu-nehmende Zahl zu beobachten und ich fürchte, dass die Dunkelziffer noch höher ist. Das Thema wird uns noch eine lange Zeit beschäftigen«, ist er sich sicher. Nach den Sommerferien möchte die Liebigschule ein Resilienzprojekt zur Stressbewältigung für Schülerinnen und Schüler anbieten.
Die Sommerwelle kann auch Dr. Frank Reuber, Leiter der Gesamtschule Gießen Ost , nur bestätigen. In den beiden Wochen vor den Ferien hätten an der GGO etwa 25 Kinder und Jugendliche positive Tests erhalten. »Es ist falsch zu sagen, dass alles vorbei ist.« Alle vier Wochen biete die Schule einen Impftermin an. »Insgesamt haben wir schon über 500 Menschen geimpft«, so Reuber.
Zufrieden ist er auch, dass sowohl Klassenfahrten und Austausche als auch die Abifeier wieder in »würdigem Rahmen« stattfinden konnten. 178 Mädchen und Jungen hätten ihr Abitur in diesem Jahr an der GGO abgelegt, der Notendurchschnitt habe bei 2,17 gelegen.
Defizite hat Reuber nach dem Lockdown am ehesten im sozialen Umgang und bei der Arbeitshaltung beobachtet. Beim Umgang mit den digitalen Medien habe man dagegen erheblich dazu gelernt. Viele Schülerinnen und Schüler hätten sich selbst gut organisieren können, andere eine eher konsumierende Haltung eingenommen. »Wichtig ist es, nicht zu defizitär zu arbeiten, sondern die Stärken weiter zu stärken.«
Ein großes Lob des Schulleiters geht an die Lehrerinnen und Lehrer: »Das enorme Engagement der Lehrkräfte während der Pandemie und danach ist in den Medien zu wenig gewürdigt worden. Der Unterricht hat sich gerade in den letzten zwei Jahren sehr verändert und ich bin extrem stolz auf meine Lehrkräfte, die das mit Bravour bewältigt haben.«
»Wir haben keine signifikanten Leistungsverschlechterungen feststellen können«, betont der Leiter der Ludwig-Uhland-Schule , Dr. Jan-H. Schneider. Der Unterricht sei normal verlaufen, abgesehen davon, dass die Kinder sich regelmäßig selbst getestet hätten. »Unsere Aufmerksamkeit hat vor allem den sozialen und emotionalen Themen gegolten.«
»Themen, die ihre Familien belasten, wirken sich auch auf die Schülerinnen und Schüler aus. Hierzu zählen große gesellschaftliche Themen wie der Ukrainekrieg, die Inflation, die Trockenheit aber auch wieder Corona.« Insgesamt habe man ein »herausforderndes Schuljahr« hinter sich gebracht. Highlights seien die Klassenfahrten gewesen, von denen es ausschließlich positive Berichte gegeben habe, sowie die Zirkus-Projektwoche. Aktuell hat die Schule eine Deutschintensivklasse mit überwiegend ukrainischen Kindern.
»Auch wenn viele Veranstaltungen Corona-bedingt ausfallen mussten, hat sich die Pandemie nicht nur negativ auf das Schulleben ausgewirkt«, stellt Stadtschulsprecher Paul-Henry Bartz fest. So habe sich beispielsweise das Engagement in AGs verbessert. Auch die schulischen Leistungen seien nicht abgesackt - »im Gegenteil«. Selbst ohne den Corona-Bonus des Vorjahres hätten ein Großteil der Schüler »traumhafte« Abschlussnoten erzielt. »Die Dinge haben sich schneller wieder eingependelt als viele vermutet haben. Corona ist leider zum Alltag für uns alle geworden.«