1. Startseite
  2. Stadt Gießen

»Das alles ist Kriegsrhetorik«

Erstellt:

giloka_0203_putin_ebp_02_4c_1
Russlands Präsident Wladimir Putin verkündete am 21. Februar die Annerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk. Drei Tage später begann er seinen Krieg gegen die Ukraine. © dpa/Sputnik | Aleksey Nikolskyi

GiZo-Direktorin Prof. Monika Wingender analysiert Putins Ukraine-Äußerungen

Gießen . Seit fast einer Woche führt der russische Präsident Wladimir Putin Krieg gegen die Ukraine. In seiner Rede am 24. Februar hat er den Angriff mit fragwürdigen bis falschen Behauptungen begründet. Prof. Monika Wingender ist Direktorin des Gießener Zentrums Östliches Europa (GiZo) und Professorin für slavische Sprachwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität. Im Interview spricht sie über die sprachlichen Strategien des Kreml-Chef und erklärt, warum Putins jüngste Drohungen keine Überraschung sind.

Putin hat in seiner Kriegserklärung drastische Worte für die Ukraine gefunden. Hat Sie die Rede überrascht?

Die Rede hat mich nicht überrascht. Sie lässt uns natürlich erschaudern angesichts der Rhetorik, Propaganda und Drohungen. Aber dies hat sich schon seit einiger Zeit in vorherigen Reden angekündigt. Denn die Rede vom 24. Februar setzt sich im Prinzip aus lauter Versatzstücken früherer Ansprachen Putins zusammen. Wir können die Rede auf drei Blöcke sprachlicher Strategien reduzieren.

Welche sind das?

Der erste Block konstruiert die Nato-Osterweiterung als Aggression gegen Russland und als Völkerrechtsbruch. Putin bezeichnet es als »zynischen Betrug« und »Lügen« des Westens, insbesondere der USA. Der zweite, umfangreichere Block konstruiert die Ukraine als Instrument der US-amerikanischen Außenpolitik, als »Nazi-Regime« und als »Anti-Russland«. Er konstruiert den Vorwurf, dass alle, die Amerika folgen, willig Amerikas Lied singen und zur Schaffung dieses »Reichs der Lügen«, wie er es nennt, beitragen. Ein aus Putins Sicht sehr wesentliches Argument sind die historisch zu Russland gehörenden Gebiete, in denen, wie er es darstellt, ein feindlich gesinntes »Anti-Russland« geschaffen wurde. Die Massenproteste auf dem Maidan und die Wahlen in der Ukraine 2014 bezeichnet er als »Putsch« und behauptet, es gebe einen Genozid durch die ukrainische Regierung in der Ostukraine. Ziel des Krieges sei entsprechend die Entmilitarisierung und Entnazifizierung.

Und der dritte Block?

Darin konstruiert er Russland schließlich als »die Guten«. Russland schütze vor Nationalisten und Neonazis und sei der »Versöhner«. Hier stellt Putin heraus, dass er es gewesen sei, der im Dezember 2021 versucht habe, ein Abkommens zur Sicherheit in Europa zu erreichen - ohne natürlich zu erwähnen, dass er dabei Bedingungen unterbreitet hat, die niemand annehmen konnte. Außerdem schlachtet er den Einsatz in Kasachstan für sich aus unter dem Motto »Wir respektieren alle postsowjetischen Staaten« - als »Beweis« dient ihm hierbei der relativ schnelle Truppenabzug nach den Protesten im Januar. Das alles ist Kriegsrhetorik. Das heißt aber nicht, dass die nicht schon ganz lange strategisch vorbereitet worden ist.

Können Sie Beispiele für die lange Strategie geben?

Eine der wichtigsten ist sicherlich die Rede an die Nation vom 21. Februar. Hier finden sich ganz viele Argumente wieder. Im Juli 2021 hat Putin einen Aufsatz verfasst über die historische Einheit der Russen und Ukrainer. Hier finden wir einen ganzen Block zur Konstruktion der Ukraine als »Anti-Russland«. Die ganze Problematik der historischen Argumentation Putins hat der Historiker Andreas Kappeler in der Zeitschrift »Osteuropa« bereits dargelegt. Sein Aufsatz endet mit dem Zitat »[Putins] Drohungen sind ernstzunehmen«. Offenbar sind sie von der Politik nicht ernst genug genommen worden. Diese Rhetorik und Propaganda sind seit Langem bekannt und ein Teil von Putins langjähriger Strategie zur Schaffung seines russischen Imperiums als Wiederherstellung der Sowjetunion. Dies betreibt er sowohl nach innen wie auch nach außen.

Das müssen Sie erklären.

Russland ist ein Vielvölkerreich mit über 130 verschiedenen Völkern und Sprachen. Der Begriff »russländische Förderation« bezieht sich auf eine supranationale Einheit, die alle Völker Russlands umschließen soll, während das Adjektiv »russisch« nur für die russische Ethnie gilt. Seit Putins Wiederwahl 2012 wird ganz strategisch aus einer russländischen Nation eine russische gebildet - und zwar unter heftigen Protesten der nicht-russischen Republiken, allen voran Tatarstan. Dieses Wortspiel »russkij« (russisch) und »rossijskij« (russländisch) zieht sich seit Jahren schon durch die Reden Putins. Es ist interessant zu beobachten, wie er es erst nur vermischt und er heute nur noch von »russisch« spricht.

Welche Konsequenzen hat das für die Minderheiten in Russland?

Das Vielvölkerreich ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Kolonisierung. Als Lippenbekenntnis wird in der russischen Verfassung nach wie vor die Gleichheit der Sprachen und Völker betont. Jetzt sieht man in einer ganzen Reihe von Reden und Gesetzen zu Kultur, Sprache und Nation, wie er das umwandelt. Man muss wissen: Die Republiken haben das Recht auf ihre eigenen Staatssprachen: In Tatarstan etwa gibt es neben Russisch eben auch die tatarische Staatssprache. Nun hat Putin systematisch nationale Konzeptionen so vorangetrieben, dass die Bildungsgesetze über Jahre immer wieder verändert wurden. Der endgültige Wendepunkt kam 2018: Da wurde das Bildungsgesetz d dahingehend geändert, dass der obligatorische Tatarisch-Unterricht in der Schule abgeschafft wurde. Das ist ein Bruch mit der Verfassung des Vielvölkerreichs, der klar die Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Russland widerspiegelt.

Und was ist Putins Strategie nach außen?

Sie betrifft die russischsprachigen Menschen in allen postsowjetischen Staaten. Das Ergebnis sehen wir im Donbass. Die russisch-ukrainische Zweisprachigkeit wird von Russland als Sprachenkonflikt dargestellt. Der russisch-sprachige Bevölkerungsanteil in der Ukraine werde bedroht von der »an die Macht geputschten Regierung« in Folge des Maidan 2013/2014. Das ist eine Instrumentalisierung eines angeblichen russisch-ukrainischen Sprachenkonflikts als Vorwand, um im Donbass einzugreifen. Breite Umfragen zeigen, dass der Großteil der ukrainischen Bevölkerung keinen solchen Konflikt sieht und auch Zweisprachigkeit nicht als Problem gesehen wird.

Warum kann man das trotzdem so instrumentalisieren?

Das hat mit der starken Konzentration der russischsprachigen Bevölkerung im Osten und Südosten und auch mit der ukrainischen Sprachenpolitik zu tun. Mit jedem neuen Präsidenten hat sich in den letzten 31 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion die Sprachenpolitik in der Ukraine geändert. Sie schwankt zwischen Ukrainisierung und Russifizierung. Ein weiterer Punkt ist die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Diese wurde in der Ukraine missbraucht, um das Russische mit in die Charta aufzunehmen. In der Ukraine spricht die Bevölkerung etwa halbe-halbe Ukrainisch oder Russisch als Erstsprache, also ist Russisch weit verbreitet. Russisch ist auch nicht vom Aussterben bedroht. Es hätte also niemals in die Europäische Sprachencharta als zu schützende Sprache aufgenommen werden dürfen. Das Sprachengesetz von 2012 in der Regierungszeit von Janukowytsch hat in der Ukraine für viel Streit gesorgt.

Foto: M. Szych / JLU Slavistik

Gießen (fley). Der Krieg bewegt auch die Gießener Hochschulwelt. Das Gießener Zentrum Östliches Europa lädt für Donnerstag, 3. März, ab 16 Uhr zu einer Online-Diskussion ein. Unter dem Titel »Putins Krieg in der Ukraine: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der JLU beantworten brennende Fragen« sollen sowohl die Gießener Öffentlichkeit wie auch Studierende über die Vorgänge und Hintergründe informiert werden. Während der zweistündigen Diskussion werden die Experten sowohl Mythen und Vorurteilen, aber auch Falschinformationen auf den Grund gehen. Eine Voranmeldung ist nicht nötig. Die Veranstaltung wird über Zoom abgehalten. Mehr Informationen und den Link unter: https://www.uni-giessen.de/fbz/zentren/gizo/archiv/2022/krieg

giloka_0203_wingender_eb_4c_1
Monika Wingender © Red

Auch interessant