»Das ist ein ganz Lieber«

Der Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Raubes, bei dem sich ein 38-Jähriger verantworten muss, wird am Landgericht Gießen fortgesetzt.
Gießen. Ist der 38-Jährige, der sich zurzeit vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Gießen verantworten muss, jemand, der »Leute abzieht, wo er kann«, wie es ein Zeuge schilderte oder ein Mann, der sich in einem Mehrfamilienhaus als »Sheriff« und »Antidrogenbeauftragter« gerierte, wie der Vorsitzende Dr. Klaus Bergmann die Ausführungen des Angeklagten zusammenfasste. Fakt ist zunächst, dass dem 38-Jährigen mehrfache gefährliche Körperverletzung, versuchter Raub und Widerstand gegen Polizisten vorgeworfen werden. Ort des Geschehens: ein Hochhaus in der Innenstadt. Der Angeklagte, der dort aufgewachsen ist, soll vor und in einer Wohnung im achten Stock im Oktober 2021 die Mieter tätlich angegriffen und dabei die Mieterin mit einem Tritt derart im Gesicht verletzt haben, dass diese eine Platzwunde erlitt und außerdem einen Schneidezahn verlor. Ein halbes Jahr später sei es zu einer weiteren Eskalation gekommen, bei der ein Messer im Spiel gewesen sein soll.
Der Angeklagte hatte zum Prozessauftakt (der Anzeiger berichtete) versichert, er habe nur gegen die Dealertätigkeiten des Pärchens im achten Stock vorgehen wollen. Diese störten massiv den Hausfrieden und beeinträchtigten vor allem die Familien mit Kindern, so der mehrfache Familienvater. Beim Fortsetzungstermin wurde diesmal unter anderem die Mieterin als Zeugin befragt.
Seit vier Jahren unter Betreuung
Was der Angeklagte bei ihnen gewollt habe, konnte sich die fahrig wirkende 31-Jährige nicht erklären. »Er hat sich einfach in die Wohnung gedrängelt.« Sie sei durch das Gerangel, in das noch ein Bekannter und ihr Schwiegervater in spe involviert waren, im Bereich der Badezimmertür zu Boden gestürzt. Dort habe sie vom Angeklagten einen Tritt ins Gesicht bekommen. Sie sagte zunächst: »Eigentlich ist er ein freundlicher Kerl, ich hätte nicht gedacht, dass er so etwas macht.« Sie kenne ihn seit fünf oder sechs Jahren. Im Laufe der Verhandlung sprach sie aber davon, dass er schon häufiger versucht habe, sie »abzuziehen und Geld zu verlangen«. Er habe wohl auch gesagt, dass sie Junkies seien und Drogen verkaufen würden. »Handeln Sie denn mit Drogen?«, hakte Bergmann nach. Die Zeugin verneinte, gab aber zu, dass sie Drogen konsumiere. »Aber nur Cannabis und früher auch mal Speed.« Auf ihren schlechten äußeren Zustand angesprochen - ihr fehlten sichtbar mehrere Zähne - erwiderte sie: »Ich lasse das bald machen, ich habe aber eine Zahnarztphobie.« Auch nach dem Vorfall sei sie nicht ins Krankenhaus gegangen.
Sie stehe seit vier Jahren unter Betreuung und erhalte wöchentlich 60 Euro für den Lebensunterhalt. Sie mache momentan auch ein Fernstudium. »Wie machen Sie das mit Essen, Hund versorgen und gelegentlichem Cannabiskonsum?«, wollte wiederum der Rechtsbeistand des Angeklagten, Ramazan Schmidt, wissen. »Darauf muss ich nicht antworten«, so die Frau.
Nur gechillt, nicht gedealt
Mit der Polizei geholt werden musste der nächste Zeuge, der zum geladenen Zeitpunkt unentschuldigt nicht erschienen war. Der Bekannte des Pärchens, der bei dem Vorfall mit in der Wohnung war, musste sich zunächst eine Belehrung des Vorsitzenden anhören: »Die Polizei ist kein Taxiunternehmen. Dass Sie hier nicht pünktlich erscheinen, gefällt mir gar nicht.« Der 32-Jährige bestätigte, dass der Angeklagte der Frau bei dem Vorfall ins Gesicht getreten habe. Was dieser an dem Abend von dem Pärchen gewollt habe, sei auch ihm nicht klar. Auf Nachfrage räumte der Zeuge ein, Drogen zu konsumieren. Dealen würde er aber nicht. »Das ist mir zu stressig.« Den Angeklagten kenne er seit zwölf Jahren. »Er ist meistens friedlich, doch manchmal macht es ›klick‹ und er ist anders.« Die betroffene Zeugin kenne er ebenfalls seit vielen Jahren. »Sie ist nicht richtig im Kopf, aber wer ist das schon«, meinte er. »Also ich würde das schon für mich in Anspruch nehmen«, entgegnete Klaus Bergmann.
Einen Beruf und einen Schulabschluss hat der junge Mann nicht. Bei der Frau und ihrem Lebensgefährten, der demnach noch befragt werden soll, sei er mehrmals in der Woche zu Besuch. »Und was machen Sie dann?», erkundigte sich Ramazan Schmidt. Die Antwort: »Chillen!« Der Rechtsanwalt fragte erneut: »Was heißt chillen?« Bergmann vermutete, »Die Zeit« werde er wohl nicht gelesen haben. Hat er auch nicht. »Wir haben gekifft.«
Weiterhin erklärte der Zeuge, er glaube, dass der Angeklagte immer ein Messer dabei habe und ständig Leute »abziehe«. »Woher wissen Sie das?«, intervenierte nun Staatsanwalt Tom Bayer. »Aus dem Internet«, so die etwas wirr anmutende Reaktion des 32-Jährigen.
Beim letzten Zeugen handelte es sich um einen Mann, der an jenem Tatabend zufällig am Ort des Geschehens war, weil er seine Mutter besuchen wollte. Als er das Gerangel im Stock obendrüber bemerkte, lief er hin und kam fast zeitgleich mit der Polizei an. Danach verhielt sich der polizeibekannte Zeuge allerdings nicht kooperativ; die Beamten nahmen ihn schließlich fest. Sein widerständiges Verhalten hatte eine Geldstrafe zur Folge. Über den Angeklagten sagte er nur: »Das ist ein ganz Lieber.« Er kenne ihn schon seit 28 Jahren. »Wir sind in dem Haus aufgewachsen.« Auch er mutmaßte, dass das Pärchen im achten Stock mit Drogen deale. »Da gehen jeden Tag bis zu 20 Menschen ein und aus. Das geht ja nicht, hier leben viele Familien mit Kindern.«