»Das ist ein komplexer Cocktail«

Prof. Andreas Vilcinskas und sein Team untersuchen Tiergifte. Die Forscher suchen dabei auch nach neuen Medikamenten.
Gießen. Dicht hinter dem Kopf gepackt führt die Hand eine Schlange auf ein Glasgefäß zu. Das Maul weit aufgerissen durchdringen die großen Zähne eine Art Membran. Und langsam fließt das Gift in das Gefäß. Klar, solche Bilder sind bekannt. Doch mit der aktuellen Forschung von Prof. Andreas Vilcinskas und Kollegen an Tiergiften haben sie nichts zu tun. »Wir kennen ungefähr 200 000 giftige Tierarten. Jeder kennt die Schlangen, die gemolken werden. Das ist allerdings nicht sehr effizient, wenn man Tiergifte als Ressource für neue Wirkstoffe nutzen möchte. Deshalb schaffen wir einen systematischen Ansatz, um Tiergifte zu erforschen«, erläutert der Leiter des heimischen Fraunhofer Instituts im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Wissenschaftler suchen bei ihrer Arbeit nach Substanzen, die später etwa in der Medizin eingesetzt werden könnten.
Das, was aus den Drüsen der Schlange in das Gefäß läuft, ist umfangreicher, als es der allgemein verwendete Begriff Gift suggeriert. »Das ist ein komplexer Cocktail. Da sind 400, 500 verschiedene Komponenten drin«, erklärt Vilcinskas. Und das ist nicht bloß bei Schlagen so. Alle bekannten rund 200 000 giftigen Tierarten verfügten in ihren Giftdrüsen zumeist über viele hundert Substanzen. »Man schätzt in der Literatur, dass es in Tiergiften insgesamt 20 000 000 Substanzen gibt. Davon hat man bislang nur 5000 untersucht, woraus wiederum 18 Medikamente entstanden und auf den Markt gekommen sind. Da ist also ein Riesenpotenzial. Mein Wunsch ist, diese Tiergifte als Ressource für die Wertschöpfungskette zu erschließen«, betont der Gießener Forscher.
»Von der Natur lernen«
Neben Schlangen sind Skorpione ein weiteres Beispiel. Schon vor einiger Zeit hat das Team Exemplare aus Australien unter die Lupe genommen. Mit einem speziellen Ziel: »Wir suchen neue Insektizide und wollen von der Natur lernen. Die Skorpione haben über hunderte Millionen Jahre ihren Giftcocktail an ihre Beute - Insekten - angepasst. Wenn ich also etwas insektizides suche, müsste ich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Skorpionen fündig werden. Und wir sind fündig geworden und haben zum Beispiel Peptide gefunden, die über einen ganz neuen Wirkmechanismus Blattläuse töten. Diese Peptide selbst werden wahrscheinlich nicht als Insektizid eingesetzt«, berichtet Vilcinskas. Man könne aber schauen, wo diese Peptide - eine Art Verbindung sogenannter Aminosäuren - bei der Blattlaus binden. Man könne auf diese Weise also neue Target- oder Ziel-Gene identifizieren.
Diese Substanzen und Wirkmechanismen zu finden, sei das große Ziel. Das Spektrum der Tierarten, mit denen die Forscher arbeiten, ist bei der Suche groß. Neben Stachelrochen betrachtet die Gruppe auch Feuersalamander und viele einheimische Gifttiere wie zum Beispiel Kreuzottern. »Wir erschließen damit auch Tiergruppen, die sich vorher niemand angesehen hat. Ein schönes Beispiel sind sogenannte Pseudoskorpione. Das sind ganz winzige Organismen. Sie bilden eine eigene Gruppe, die viel artenreicher ist, als die der eigentlichen Skorpione. Weil die Pseudoskorpione so winzig sind, wusste man bis heute nicht, was in ihren Giftdrüsen ist. Das erarbeiten wir zum Beispiel auch im Rahmen einer Kooperation mit der Universität Bonn. Und wir haben schon Substanzen gefunden«, erklärt der Pionier der Insektenbiotechnologie. Aus der Arbeit an den Tiergiften solle im Gießener Fraunhofer Institut eine eigene Abteilung entstehen, die eng mit der Naturstoffforschung zusammenarbeite.
Wie die Erforschung der Tiergifte genau funktioniert? »Meine Idee ist ein neuer Ansatz, den ich Animal Venomics genannt habe. Das bedeutet, dass wir Tiergifte mit den modernen omics-Methoden erschließen. Also mit Genomik, Transkriptomik, Proteonik und Bioinformatik«, erklärt der Gießener Wissenschaftler. Das bedeutet, dass die Forscher die stofflich vorliegenden Erbinformationen oder Erbsubstanz im ganzen Lebewesen oder in den Giftdrüsen in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien unter die Lupe nehmen. Beispiel Stachelrochen, von denen manche eine Giftdrüse haben: »Unsere Doktorandin Kim Kirchhoff hat weltweit Proben gesammelt, so dass wir jetzt die größte Gewebeprobensammlung von Stachelrochen haben, die es gibt«, führt Vilcinskas aus. Diese Gewebeproben würden mit den neuen Methoden untersucht, wie das Team in einer aktuellen Veröffentlichung im Fachmagazin »Marine Drugs« berichtet. Manchmal finde man bekannte Substanzen oder aber bislang komplett unbekannte. Die stoffliche Erbsubstanz mit ihren Informationen stelle man anschließend synthetisch oder künstlich her. »Und dann wird ein großes Profiling gemacht. Wir testen zum Beispiel, ob Insektizide drin sind. Wirkt die Substanz gegen Schmerz oder Diabetes? Ist sie antibiotisch wirksam? Wir versuchen, uns das systematisch zu erschließen.« Dabei arbeite man strikt nach dem Nagoya-Protokoll, das den Umgang mit genetischem Material auf internationaler Ebene regelt.
Neue Professuren an der JLU
Die Arbeit der Gießener Forscher sind ein Teil des Loewe-Zentrums »Translationale Biodiversitätsgenomik«. Das Besondere sei, dass »die Uni Frankfurt, das Institut Senckenberg, die Uni Gießen, Fraunhofer und jetzt auch noch Max-Planck dabei sind.« Im vergangenen Dezember habe man für die zweite Förderrunde 15 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre bekommen. »Das Besondere ist für uns Gießener, dass über dieses Projekt die ersten Professuren von Senckenberg an die Uni Gießen kommen. Eine für Allgemeine Entomologie, die Steffen Pauls inne hat. Die Professur für Umweltgenomik hat Miklós Bálint inne. Das hat uns gestärkt«, resümiert der Leiter des Fraunhofer-Instituts. Weiterhin werden über das Loewe-Zentrum drei Nachwuchsgruppen finanziell unterstützt, die am Institut für Insektenbiotechnologie und am Fraunhofer Institut angesiedelt sind. Eine leitet Dr. Tim Lüddecke, der 2021 für seine kumulative Dissertation über Spinnengifte den Dissertationspreis der JLU bekommen hat.


