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Das Murmeltier grüßt einmal mehr

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So wie einst dem Fernseh-Wetterfrosch Phil (Bill Murray) im Filmklassiker »Und täglich grüßt das Murmeltier« geht es auch der Roman-Protagonistin Tara: Sie gerät in eine Zeitschleife. Foto: picture alliance, SAT.1 © picture alliance, SAT.1

Dass täglich das Murmeltier grüßt, wissen wir nicht erst seit der romantischen Komödie mit Bill Murray und Andie MacDowell aus dem Jahr 1993. Ob das Ei oder die Henne, sprich der Filmtitel oder dessen metaphorische Bedeutung im täglichen Gebrauch zuerst da war, bedarf der Überprüfung. Aber wir wissen: Wenn täglich das Murmeltier grüßt, sind wir gefangen in der Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung.

Dieser Vorgang wird, das aber nur am Rande, auch Leben genannt.

Die dänische Schriftstellerin und studierte Philosophin Solvej Balle hat über das täglich grüßende Murmeltier einen philosophisch grundierten Roman geschrieben, der mit »Über die Berechnung des Rauminhalts I« einen recht sperrigen deutschen Titel hat. Ob das nötig war, diese Frage stellt sich vor und nach der Lektüre. Einer Lektüre, die einerseits verstörenden Gewinn verspricht, andererseits eine gewisse Enttäuschung hinterlässt.

Zum Inhalt: Tara Selter ist Buchhändlerin in der französischen Provinz, sie bewegt sich zwischen Paris und Bordeaux auf Antiquariatsmessen, lebt mit ihrem Mann Thomas in einem Haus auf dem Land. Nach dem Besuch einer solchen Messe findet sie sich gefangen in einer Zeitschleife. Sie erlebt von nun an immer wieder den 18. November, der Roman umfasst in Echtzeit ein Jahr. Ihr Mann und alle um sie herum leben weiter, ohne Taras Tages-Gefangenschaft wahrzunehmen. Einer Gefangenschaft, deren Vermittlung ihr nicht gelingen kann, weil für Thomas und alle anderen der Tag stets neu beginnt (und fortschreitet), er ihre Situation, selbst wenn sie es versucht ihm zu erklären, also immer aufs Neue vergisst.

Wir beobachten Tara, wie sie sich müht, mit dieser existenziellen Katastrophe umzugehen, sich bemüht, aus diesem Novembertag herauszufinden. Platt gesagt: Tara ist allein, einsam, isoliert, versteht nicht, was geschieht. Tara Selter ist so gesehen auf andere Art und Weise Kafkas Josef K., Hamsuns Herr Hapolati, Bernhards Roithammer.

Aber der Roman ist nicht »Der Prozeß«, nicht »Hunger« und nicht »Korrektur«. »Über die Berechnung des Rauminhalts« ist ohne Zweifel gut erzählt, hat sprachliches Niveau und philosophische Tiefe, allerdings werden die schmalen 170 Seiten schon nach gut der Hälfte redundant, auch weil die Figuren blass bleiben. Richtig interessieren sie den Leser nicht. So öde es sein mag, immer den gleichen Tag zu erleben, so öde wirkt das erzählte Geschehen ab Seite 100. Sollte das ein Stilmittel sein, um mit der Form den Inhalt zu transportieren, so wäre es brillant. Das aber ist nicht der Fall, eher schon wirkt es, als wisse die Autorin nicht so recht, wo sie hin will mit dem Literatur gewordenen Gedankenexperiment.

Gleichwohl liest man weiter, denn: Da muss doch noch was kommen! Der existenzielle Plot ließe viel Spielraum für die Entfaltung einer radikalen Dystopie. Doch der Roman bleibt auf halber Strecke stecken. Das ist schade, wenn man bedenkt, welch wohligen Schrecken beispielsweise Thomas Glavinic mit »Die Arbeit der Nacht« verbreitet hat, als sein Protagonist eines Morgens aufwacht und allein ist auf der Welt. Man kann nicht immer Hamsun, Kafka oder Bernhard haben, diese Vergleiche sind ungerecht, weil zu hoch angesetzt. Aber ein wenig mehr darf es schon sein, wenn man sich an ein Thema wagt, das uns einerseits täglich grüßt, andererseits aber täglich verstört zurücklässt. Für was haben wir sie denn sonst, die Literatur, die Kunst? Dann können wir auch gleich romantische Komödien gucken. Jeden Tag aufs Neue.

Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts. 170 Seiten. 22 Euro. Matthes & Seitz.

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