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Das Private ist politisch

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Von: Björn Gauges

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Zwischen den Mauern Berlins und Istanbuls: Janina (Zelal Kapcik). Foto: Bils © Bils

Am Stadttheater Gießen feiert die Liebesgeschichte aus Istanbul »Last Park Standing« Premiere im Kleinen Haus.

Gießen. Das Private ist politisch und das Politische privat. Mit diesem Sponti-Spruch sollte der liberale Freiheitsbegriff der Nach-68er auf die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft übertragen werden. Der Satz mag zwar noch heute stimmen, doch eher gezwungenermaßen denn aus freiem Willen. Greifen zumindest autoritäre Systeme doch immer stärker in die Leben der einzelnen Menschen ein - wie das Schauspiel »Last Park Standing« nahelegt, das jetzt Premiere im Kleinen Haus des Stadttheaters feierte.

Das Stück der 1990 in der Türkei geborenen, in Wien lebenden Ebru Nihan Celkan erzählt von der Liebesbeziehung zweier entfernt voneinander lebender junger Frauen. Denn die ebenfalls in Istanbul lebende Gastregisseurin Ebru Tartıcı Borchers arbeitet in ihrer Inszenierung mit ständigen Zeitsprüngen, die das Dilemma des Paares kenntlich machen. Umut (Nina Plagens) arbeitet als Anwaltsgehilfin in Istanbul, Janina (Zelal Kapcik) studiert Astrophysik in Berlin. Und wie es ihr Berufsthema nahelegt, scheinen die beiden trotz ihrer innigen Zuneigung zueinander nicht nur in unterschiedlichen Metropolen, sondern in weit voneinander entfernten Sphären zu leben. Ihre gemeinsame Geschichte kollidiert dabei mit den Gezi-Protesten des Jahres 2013 und dessen Folgen, die die Türkei in ein zunehmend autoritäres, für Andersdenkende und -lebende gefährliches Land verwandelt haben.

Widerstand im Park

Zur Erinnerung: Die Gezi-Proteste richteten sich zunächst nur gegen den Abriss eines kleinen Parks in Istanbuls Stadtzentrum, der einem Einkaufszentrum weichen sollte. Doch bald schon entwickelten sich daraus anhaltende Demonstrationen und Aktionen, die sich gegen die Regierung Recep Tayyip Erdogans richteten. Zu Beginn dieser realen Ereignisse landet die fiktive Janina in der Stadt, in einem unübersichtlichen Treppenhaus und bald darauf in den Armen der zugänglichen, bisweilen überschwänglichen Umut. Die nimmt ihre dem Wesen nach eher nüchterne Geliebte gleich mit in den Park und bringt sie mit Gleichgesinnten aus der subkulturellen Szene zusammen, darunter ihren engen Freund Ahmet (Levent Kelleli).

So beginnt diese Beziehungsgeschichte, der in rund 90 Minuten Spielzeit schon bald erste Brüche eingeschrieben sind. Denn die ebenfalls in Istanbul lebende Gastregisseurin Ebru Nihan Celkan arbeitet in ihrer Inszenierung mit ständigen Zeitsprüngen, die das Dilemma des Paares kenntlich machen. So ist die Leichtigkeit des Anfangs angesichts des zunehmenden Ausnahmezustands, in dem Umut sich im Jahr 2015 befindet, längst verflogen. In einem weiteren Sprung führt das Stück weitere drei Jahre nach vorn, als die staatlichen Repressionen so stark zugenommen haben, dass nur noch eine Übersiedlung Umuts nach Berlin ein Ausweg zu bieten scheint. Doch die Aktivistin kann sich nicht entschließen, ihre geliebte Heimatstadt zu verlassen. »Revolution oder Liebe?«, fragt ihr Freund Ahmet - und benennt damit zugleich den motivischen Kern dieses atmosphärisch dichten Kammerspiels.

In einer der stärksten Szenen offenbart sich der Verrat, den der mehrfach in Haft geratene Ahmet an seiner Freundin begangen hat, weil er sie bereits im sicheren Ausland wähnt. Leicht ist es, so zeigt sich, in den Mühlen des Systems zu zerbrechen. Dabei hat der junge Mann doch gleich zu Beginn den Satz »Her sey mümküsn« (Alles ist möglich) auf eine Wand gesprüht. Doch diese Parole kann pessimistisch ebenso wie optimistisch gelesen werden. Umut jedenfalls zahlt für ihren Einsatz gegen die Machthaber einen Preis: »Ich habe nie gelebt«, seufzt sie schließlich - denn zwischen Revolte und privatem Glück zeigt sich kaum einen gangbarer Mittelweg.

Nächste Vorstellungen: 29. April, 7., 12. und 18. Mai.

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