Das schafft er mit links

Evgeni Ganev glänzt beim Sinfoniekonzert im Stadttheater Gießen als Solist in Ravels Klavierkonzert - mit nur einer Hand.
Gießen. In Max Liebermanns Berliner Atelier kam ein junger Maler, um dem verehrten Meister sein neuestes Bild zu zeigen. Liebermann schaute sich das Werk lange an und sagte dann: »Junger Mann, da iss viel drin - und dett muss raus!« Auch in der 1912 entstandenen »Musik für Orchester« von Rudi Stephan, die am Dienstagabend zu Beginn des Sinfoniekonzerts im Stadttheater erklang, ist viel drin. Viel zu viel.
Da mochte Martin Spahr bei seinem Debüt als Dirigent eines Sinfoniekonzerts noch so temperamentvoll und beschwingt agieren und das Philharmonische Orchester Gießen noch so motiviert musizieren, aber das Gewollte, Überbordende und Ungestüme der Komposition behielt in der gut viertelstündigen Wiedergabe stets die Oberhand. Die Musik changierte klanglich zwischen Mahler, Debussy und dem frühen Schönberg, doch nichts davon blieb haften.
Soldatentod in der Ukraine
Rudi Stephan starb 1915 an der Ostfront in der Ukraine den Soldatentod, und das war wohl einer der Gründe, weswegen sein Stück in das Programm des Abends aufgenommen wurde, an dem das Elend und Leid des Krieges im Hintergrund aller Werke gegenwärtig waren. Ursprünglich für den 75. Jahrestag der Bombardierung Gießens geplant, kam das Gedenkkonzert aufgrund der Corona-Pandemie erst jetzt zustande. »Durch den Krieg in der Ukraine hat es an Aktualität gewonnen«, sagte Spahr am Ende des Abends, als er die Besucher um Spenden für die Gießener Hilfsorganisation GAiN bat, die unter anderem ukrainische Kriegsflüchtlinge unterstützt.
Für jeden Pianisten, der es gewohnt ist, beide Hände einzusetzen, ist das Konzert für die linke Hand D-Dur von Maurice Ravel eine extreme Herausforderung. Ravel hat es für den Wiener Pianisten Paul Wittgenstein geschrieben, der als Soldat im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte. Und Ravel hat dabei keine Schwierigkeit ausgelassen. Er komponierte Sprünge und Läufe über die gesamte Tastatur und dabei gelang ihm das verblüffende Kunststück, dass der Solopart wie ein voller zehnfingriger Klaviersatz klingt. Mit geschlossenen Augen meint man, einen Spieler mit zwei Händen zu hören.
Evgeni Ganev, der sich in den vielen Jahren, in denen er dem Stadttheater verbunden ist, als vorzüglicher Pianist ausgewiesen hat, stellte sich der Herausforderung - und schaffte sie sozusagen mit links. Zuverlässig begleitet vom hellwach und konzentriert agierenden Orchester entlockte der mit allen Finessen vertraute Solist der perfekt ausgestalteten Komposition allenthalben pianistischen Glanz. Vom düsteren Anfang, in dem sich die Schrecken des Krieges widerspiegelten, bis zu den Jazzpassagen des zweiten Teils steigerte sich die Musik in ihrer Dichte mehr und mehr, dass kaum noch eine Steigerung möglich war.
Jederzeit der Herr der Lage
Ganev blieb bei alledem - vor allem in den beiden Solokadenzen - jederzeit souveräner Herr der Lage, schien ganz in sich selbst zu ruhen, bot an den lichten Stellen den perlenden Klang französischer Eleganz und leuchtete im Zusammenspiel mit dem Orchester die vielen Klangfarben des Werks eindrucksvoll aus. Für den herzlichen Beifall des Publikums bedankte er sich als Zugabe mit »La Campanella« von Franz Liszt, einem technisch immens schwierigen Bravourstück von höchster Eleganz, in dem er noch einmal ein virtuoses Feuerwerk - diesmal mit beiden Händen - entflammte.
Wie aus einem Guss erklang die 1888 als eigenständige sinfonische Dichtung geschriebene Totenfeier von Gustav Mahler, die später zum ersten Satz seiner 2. Sinfonie wurde. Es ist ein langer Trauermarsch mit allen dazugehörigen Emotionen, ein schwelgerisches Abschiednehmen. Diesen Mahler-Ton, der immer schmerzlich klingt und in dem immer ein untröstlicher Weltschmerz singt, trafen Spahr und das Orchester sehr genau.
Nach Mahlers klangschönem Abgesang auf das Leben voller Wehmut und Klage verblasste Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem op. 20. Die orchestrale Totenmesse, in der der überzeugte Pazifist Britten die Kriegstoten betrauert und als Mahner gegen den Krieg die Stimme erhebt, konnte bei aller kompositorischen Raffinesse nicht so recht ihre Wirkung entfalten.